Corona-Isolation als „Brandbeschleuniger“ bei Einsamkeit
Nicht nur bei der Gesundheitshotline 1450 glühten in den vergangenen Monaten die Telefonleitungen.
Auch andere Nummern wurden seit der Corona-Krise vermehrt gewählt. Etwa 142 – jene der Telefonseelsorge. „Wir hatten in den Wochen des Lockdowns zwischen 50 und 70 Prozent mehr Anrufer“, sagt Leiterin Antonia Keßelring. Neben Ängsten und Verunsicherung trieb viele Menschen die Einsamkeit zum Telefon. Bereits vor Corona war das in einem Drittel der Beratungsgespräche Thema. Das habe zugenommen, bei vielen machte sich „Verzweiflung durch die Isolation breit“, betont Keßelring. Außerdem habe sich gezeigt, dass jene, die zuvor schon isoliert und alleine waren, nun noch einsamer sind.
Viele der Anrufer leiden an einer psychischen Vorerkrankung und sind daher häufiger „isoliert“, weil sie beispielsweise Depressionen haben oder nicht arbeiten gehen können. Allerdings habe das Team auch einen anderen Effekt bemerkt: „Vielen ging es besser, sie hatten das Gefühl mehr den anderen zu gleichen. Jetzt mussten alle zu Hause sitzen.“ Doch mit den Lockerungen der Ausgangsbeschränkungen löse sich das wieder in Luft auf. Und jenen, die sich während dieser Zeit sehr isoliert haben, falle es noch schwerer, sich wieder zu öffnen.
„Einsamkeit macht krank. Es ist nicht nur ein Gefühl, sondern es schmerzt körperlich“, erklärt Anna Entenfellner, Leiterin des Psycho-Sozialen-Dienstes (PSD) der Caritas St. Pölten. Der PSD kümmert sich nicht nur um Menschen mit einer psychischen Erkrankung, sondern auch um jene, die sich in einer akuten seelischen Krise befinden – Einsamkeit und Isolation sind hier stark präsent. „Corona ist hier ein Brandbeschleuniger, Einsamkeit ist ja nicht neu. Auf uns rollt schon länger eine Einsamkeitswelle zu“, sagt sie. Das resultiere aus der zunehmenden Urbanisierung und der Tendenz zu Singlehaushalten.
Jung und Alt
Besonders betroffen seien Ältere, wie Günter Klug, Präsident von Pro Mente Austria, dem Dachverband für seelische Gesundheit, bestätigt. „Viele leben alleine, die Kinder wohnen nicht in der Nähe. Sie sind oft nicht mehr mobil, haben wenig Sozialkontakte. Viele vereinsamen.“ Das verstärke sich, weil sie zur Corona-Risikogruppe gehören und das Gefühl haben, im „Gefängnis zu sitzen“. Sie sind mit ihren Gedanken alleine. „Hier haben wir schon suizidale Zustände“, bedauert Klug.
Die zweite Gruppe, die laut Klug zunehmend unter Einsamkeit leidet, sind Jugendliche. „Sie geraten häufig über Soziale Medien hinein. Sie sehen, wie sich andere positiv darstellen, wie viele vermeintliche Freunde und Follower diese haben. Weil das bei ihnen selbst nicht klappt, bekommen sie das Gefühl, unzureichend zu sein. Sie beginnen sich zurückzuziehen“, erklärt Klug. Einsamkeit sei „beinahe ansteckend“. Man gerate in eine Negativspirale, entwickle negative Gedanken gegenüber anderen. Das merke das Gegenüber und beginne, sich ebenfalls zurückzuziehen. Auch bei Rat auf Draht, deren Zielgruppe Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sind, sind die Anrufe und Chatanfragen seit der Corona-Krise stark gestiegen, sagt Leiterin Birgit Satke. In diesen Gesprächen war Einsamkeit ein häufiges Thema: „Obwohl sie mit digitalen Kanälen aufgewachsen sind, vermissen sie reale Kontakte und physische Begegnungen mit Freunden, Schulkollegen und Familienmitgliedern, wie etwa den Großeltern“, erklärt Satke.
Große Hemmschwelle
Beim PSD der Caritas St. Pölten melden sich ebenfalls immer mehr Menschen seit der Krise. „Die, die wir kennen – wir haben fast 3.000 Kunden, zu denen wir jetzt telefonisch engen Kontakt pflegen – halten sich ganz gut. Sie schlittern in keine schwere Krise“.
Richtig Sorge bereiten Anna Entenfellner jene, die sich an niemanden wenden und alleine mit ihren Gefühlen und Sorgen bleiben. Sie spricht von „Kollateralschäden“, die bei den Betroffenen bleiben könnten. Beratung und Freizeitaktivitäten gebe es, aber dafür müssten die Betroffenen erst selbst aktiv werden. „Und da gibt es eine Hemmschwelle. Niemand sagt gerne, dass er einsam ist.“
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