Großbritannien: Keine Maskenpflicht trotz hoher Infektionszahlen?

Mit Gesichtsmasken könnte es in England ab dem 19. Juli vorbei sein - was zu heftigen Diskussionen führt.
Das Tragen der Maske soll eine Frage der "persönlichen Verantwortung" werden. Ärzte und Wissenschafter warnen vor Hundertausenden Infektionen und vielen Long-Covid-Fällen.

Rund 25.000 Menschen stecken sich derzeit täglich in Großbritannien mit dem neuen Coronavirus an, Tendenz steigend, auch die Spitalsaufnahmen steigen, zwar deutlich langsamer, aber doch. Trotzdem sollen ab 19. Juli alle Schutzmaßnahmen - darunter die Maskenpflicht in Innenräumen wie Geschäften oder öffentlichen Verkehrsmitteln - aufgehoben werden. Auch sollen wieder Treffen in unbegrenzt großen Gruppen möglich sein und auch die Nachtgastronomie wieder öffnen. Jetzt spitzt sich die Debatte um die Öffnungen zu.

England gehe in eine Periode ohne Einschränkungen, Schutzmaßnahmen wie das Tragen von Masken werden zur "persönlichen Entscheidung", sagte Wohnbauminister Robert Jenrick in einem Interview mit Sky News. Die Bevölkerung müsse persönliche Verantwortung übernehmen. Er selbst werde keine Masken mehr tragen. Jenrick gestand auch ein, dass die Fallzahlen deutlich steigen könnten: "Aber wir kommen jetzt in eine neue Phase, in der wir lernen müssen mit dem Virus zu leben, selbst Vorsichtsmaßnahmen zu setzen und als Individuen persönliche Verantwortung zu übernehmen."

Ähnlich äußerte sich der neue Gesundheitsminister Sajid Javid in einem Gastbeitrag für die Tageszeitung Mail on Sunday: Man müsse sich bewusst sein, dass die Infektionszahlen stark steigen werden. "Und viele Menschen werden, was die Öffnungen betrifft, zurückhaltend sein. Das ist verständlich." Aber es brauche ein breite und ausgewogene Sichtweise: "Wir müssen lernen, die Existenz von Covid-19 zu akzeptieren und Wege finden, damit fertig zu werden - so wie wir das schon mit der Grippe tun." 

Und:  "Die wirtschaftlichen Argumente für die Öffnungen sind überzeugend, aber für mich sind es genauso die gesundheitlichen."Es sei durch die Corona-Maßnahmen zu einem schockierenden Anstieg häuslicher Gewalt und fürchterlichen Folgen für die psychische Gesundheit vieler Menschen gekommen.

Durch die Öffnungen könne das Land nicht nur freier, sondern auch gesünder werden, meinte Javid.

Heftige Kritik von Ärzten und Wissenschaftern

Aus der Ärzteschaft kommt heftige Kritik an diesen Plänen. Zwar war der Anstieg der Spitalsaufnahmen bisher deutlich niedriger als der Anstieg der Infektionszahlen. Allerdings habe sich dieser beschleunigt. Die Betroffenen sind zum größten Teil zwischen 18 und 64 Jahren alt. Da nicht mehr die hochbetagten Menschen betroffen sind, sind auch die Todeszahlen deutlich niedriger, allerdings werden viele Long-Covid-Fälle befürchetet.

"Da die Fallzahlen wegen der hohen Ansteckungsrate der Delta-Variante weiterhin alarmierend ansteigen und mehr Menschen sich treffen, macht es keinen Sinn, die Beschränkungen in etwas mehr als zwei Wochen vollständig aufzuheben", sagte etwa Chaand Nagpaul von der Ärztevereinigung British Medical Association der BBC.

85,7 Prozent der Erwachsenen in Großbritannien haben eine Impfung, 63,4 Prozent zwei.Die Mathematikerin und Gesundheitswissenschafterin Christina Pagel vom University College London schreibt auf Twitter, nach drei Vierteln des Weges zur Durchimpfung aufzugeben und die noch nicht Geimpften sich einfach infizieren zu lassen, sei "gefährlich und falsch".  Für die Regierung existiere Long Covid nicht oder habe keine Bedeutung, wenn es für sie in Ordnung gehe, dass sich Hunderttausende in den kommenden Monaten infizieren werden.

Befürchet wird, dass die tägliche Zahl an Neuinfektionen auf 100.000 steigen könnte und besonders zahlreiche ungeimpfte Kinder und Jugendliche an Long Covid erkranken könnten.

Sorgen gibt es aber auch, dass diese Entscheidung auch außerhalb Großbritanniens gravierende Folgen haben könnte: Die weitgehend ungebremste Verbreitung des Virus unter den Ungeimpften und Einmalgeimpften könnten das Entstehen neuer Varianten begünstigen, die sich dann global verbreiten könnten.

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