Geladene Gesellschaft: Wenn die Corona-Wut überkocht

Geladene Gesellschaft: Wenn die Corona-Wut überkocht
Aggression und Angriffslust: Corona polarisiert und spaltet. Immer öfter regt sich in der Bevölkerung Wut, die überkochen kann.

Für den 20-jährigen Studenten hätte es ein ganz normaler Montagsdienst an der Tankstelle im rheinland-pfälzischen Idar-Oberstein werden sollen. Pflichtbewusst wies er einen Kunden, der ohne Maske Bier kaufen wollte, auf die geltenden Corona-Regeln hin. Dieser ließ sich nicht überzeugen, verließ ohne Einkauf die Tankstelle. Wenig später kehrte er zurück und schoss dem Mitarbeiter aus nächster Nähe mit einer Pistole in den Kopf.

Sein Tatmotiv – dieses gab er selbst zu Protokoll – bleibt so eindeutig wie erschreckend: Es ging ihm um die Maske.

Wie die Maske ist inzwischen auch der Impf-Stich für Querdenker zum Sinnbild der Unterdrückung und Freiheitsberaubung geworden. Längst hat sich Widerstand formiert, der Ausdruck im Angriff findet. Unlängst gab das deutsche Bundeskriminalamt bekannt, dass vermehrt Politiker, Wissenschafter und Virologen bedroht und angefeindet werden. Beleidigungen oder Belästigungen von Lehrkräften nehmen laut aktuellen Umfragen ebenso zu.

Das Schussattentat von Idar-Oberstein sorgt über Deutschlands Grenzen hinaus für Entsetzen. Auch hierzulande sorgten dieser Tage bizarre Gewaltauswüchse für Schlagzeilen: In einer Wiener U-Bahn wurde einem Mann bei einer Schlägerei das Ohr abgebissen.

Sind solche Taten im Kontext der Pandemie Einzelfälle – oder gar die Spitze eines Eisbergs angestauter Aggression?

"Bei der Tat in Deutschland handelt es sich um einen Einzelfall, der als solcher benannt werden sollte", befindet der Psychiater und Gerichtsgutachter Reinhard Haller. "Es gilt, den psychischen Zustand des Täters zu untersuchen. Offenbar war er unmittelbar bereit, jemanden zu töten."

Seine überschießende Aggressionsgeladenheit könnte mit einer Wahnerkrankung in Zusammenhang stehen. Denkbar sei auch eine ausgeprägte Persönlichkeitsstörung als Wurzel der Gewaltbereitschaft.

Angestauter Ärger

In Krisenzeiten kochen Aggressionen hoch. Sie wurzeln in Gefühlen der Beklemmung und Ohnmacht, auch Frust und Angst können sich zu Wut und Zorn auswachsen. Haller: "Unsichere Zeiten verschärfen immer bestehende psychische Konflikte. Unzufriedene Menschen werden fanatisch, misstrauische paranoid, ängstliche neurotisch."

In der Pandemie zeige sich ein komplexes Bild: "Sie ist die größte menschliche Kränkung des 21. Jahrhunderts. Und hat dem Menschen bewusst gemacht, wie verletzlich, krankheitsanfällig und sterblich er ist." Auf Kränkungen reagieren wir aggressiv, mit Rachegefühlen und Wehrimpulsen. Durch wiederholte Lockdowns hat sich die Aufgebrachtheit gestaut.

Haller: "Gefühlsregungen konnten nicht im zwischenmenschlichen Austausch oder bei Freizeitbeschäftigungen abgeführt werden." Beengte Wohnverhältnisse taten in vielen Familien ihr Übriges. Oft seien die Auseinandersetzungen und Tätlichkeiten laut Haller allerdings unter den Anzeigenschwelle geblieben.

Geladene Gesellschaft: Wenn die Corona-Wut überkocht

Reinhard Haller ist Psychiater und Psychotherapeut.

"Die Pandemie hat dem Menschen bewusst gemacht, wie verletzlich und sterblich er ist"

von Reinhard Haller, Psychiater und Psychotherapeut

Paradies für Hater

Besonders deutlich bildet sich das brodelnde Reservoir an Wut und das Ausmaß der gesellschaftlichen Spaltung in den sozialen Medien ab. "Sie sind ein ideales Spielfeld für alle, die Aggressionen abbauen wollen", sagt Haller, der der virtuellen Entladung auch Positives abgewinnen kann: "Die Alternative wäre, dass sie durch echte Tätlichkeiten abgebaut werden. Von zwei schlechten Möglichkeiten ist es die bessere."

Derzeit fühlen sich die Impfskeptiker zunehmend unter Druck gesetzt – sie wechseln in den Angriffs- und Verteidigungsmodus. Haller warnt davor, alle Corona-Rebellen in einen Topf zu werfen: "Es muss uns klar sein, dass es sich nicht um eine homogene Gruppe handelt. Es gibt eine radikale – zugegeben, sehr laute – Minderheit, die den Ton der Diskussion bestimmt. Wir sprechen von zwei bis drei Prozent, die auch durch intensive Aufklärung nicht erreicht werden können." Im Gegenteil: "Sie igeln sich noch mehr in ihrer Haltung ein."

Das Spaltungsphänomen nur der Politik zuzuschreiben, hält Haller für eine "billige Projektion: Wir haben es mit einem unberechenbaren Erreger zu tun, die Wissenschaft hat Großartiges geleistet, lag in ihren Prognosen aber auch oft falsch."

Letztlich liege es am Einzelnen, in der Krise souverän und solidarisch zu agieren: "Wenn wir zusammenhalten, haben wir eine Chance gegen das Virus."

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