Alkoholkonsum: Wie Corona zum Suchtstarter wurde
Die Statistik hinkt der Lebensrealität bekanntlich hinterher. Rückblickend steht inzwischen fest: Während des ersten Lockdowns von März bis Juni 2020 haben die Österreicherinnen und Österreicher deutlich mehr Alkohol getrunken. "Nach den Corona-Lockerungen hat sich der tägliche Konsum wieder reduziert. Im Jahresdurchschnitt hat sich der Konsumanstieg bei rund zehn Prozent eingependelt", berichtet Doris Malischnig, stellvertretende Leiterin des Instituts für Suchtprävention.
Aktuell greift jeder Siebte (ca. 15 %) in gesundheitsschädigendem Ausmaß zur Flasche – Frauen liegen mit neun Prozent hinter Männern mit 19 Prozent. "Allerdings waren es in der Pandemie vor allem Frauen, die mehr getrunken haben", sagt Malischnig. Ein Großteil musste im Lockdown die Doppelbelastung von Homeschooling und Homeoffice schultern, "ein Faktor, der beim Alkoholkonsum eine Rolle gespielt hat".
Corona als Suchtstarter
Auch in der Suchtklinik des Wiener Anton-Proksch-Instituts (API) blieben die Auswirkungen der Pandemie nicht unbemerkt: "Arbeitslosigkeit, Existenzängste, Isolation und Beziehungsprobleme haben viele Menschen, die schon vorher ein Problem mit Alkohol hatten, in die Abhängigkeit getrieben", schildert Wolfgang Preinsperger, ärztlicher Leiter des API.
Bei sozialen Trinkern, die Alkohol in Gesellschaft genießen, sei der Konsum unterdessen zurückgegangen. Die Anfragen von Betroffenen erreichen die Beratungsstellen zeitverzögert: "Viele kommen erst jetzt ins Suchthilfesystem. Zum einen, weil zu Beginn der Pandemie ambulante Einrichtungen zu hatten, und zum anderen, weil es gerade bei Suchterkrankungen lange braucht, bis Menschen Motivation und Mut für einen Erstkontakt entwickeln." Preinsperger rechnet damit, dass man den gesteigerten Versorgungsbedarf noch bis zu zwei Jahren spüren werde, "sofern die Pandemie wirklich in absehbarer Zeit vorbei ist".
Der Anstieg beim Alkoholkonsum kam nicht unerwartet: "Wir wissen, dass Menschen in Krisen auf Maßnahmen zurückgreifen, die entlasten und entspannen. In Österreich liegt bei vielen der Griff zum Alkohol nahe", weiß Malischnig.
Ein Drittel der Erwachsenen betrinkt sich hierzulande laut aktuellem OECD-Bericht mindestens einmal im Monat mit mehr als drei großen Bier (entspricht eineinhalb Litern).
Ab drei großen Bier oder einem Dreiviertelliter Wein schadet das Trinken bei Männern dem Körper, bei Frauen liegt der Schwellwert bei einem Liter Bier oder einem halben Liter Wein – kommt man pro Woche auf weniger als drei alkoholfreie Tage, wird der Konsum ebenfalls problematisch.
Konsum im Wandel
Statt zum Afterwork-Treffen mit Kollegen in eine Bar führte der Weg nach einem langen Homeoffice-Tag monatelang zum eigenen Kühlschrank. "Der Konsum zu Hause hat sich um ein Drittel erhöht", bestätigt Malischnig. Ob es sich dabei um eine dauerhafte Verlagerung handelt, ist noch nicht abschätzbar. "Es ist aber eher unwahrscheinlich, weil viele Menschen gerne in Gesellschaft Alkohol konsumieren."
Ein Großteil der schweren Trinker arbeitet in Gastro- und Handwerksberufen, zeigten britischen Forscher kürzlich in einer Studie auf. Geistliche und Meteorologen sind demnach am häufigsten abstinent. Interessant sind die Geschlechterunterschiede: Bei Frauen hängt hoher Konsum in erster Linie mit Führungspositionen zusammen.
Ein Blick auf das große Ganze zeigt, dass sich das Alkoholverhalten der Österreicherinnen und Österreicher in den vergangenen 50 Jahren konsequent zum Positiven verändert hat. Der Konsum ist unterm Strich zurückgegangen. Zurückzuführen sei das unter anderem auf Regulierungsmaßnahmen bei der Beschaffung, sagt Malischnig. "Durch Präventionskampagnen ist auch das Bewusstsein der Menschen dafür, dass Alkohol ein Problemstoff ist, gestiegen." Global gesehen ist der Alkoholkonsum in den letzten zehn Jahren stabil geblieben, schädliche Trinkmuster, etwa Binge Drinking, haben sich laut dem neuesten OECD-Bericht aber verfestigt.
Neue Therapieansätze
Auch die Behandlung alkoholabhängiger Menschen ist mit der Zeit gegangen: "Behandlungsziele sind individueller. Radikale Abstinenz ist heute nicht mehr die oberste Maxime", sagt Malischnig. 2016 hat das Institut für Suchtprävention das kostenlose Online-Selbsthilfeprogramm Alkcoach (www.alkcoach.at) gestartet. In zahlreichen Modulen werden lebensnahe Strategien erlernt, wie man etwa Risikosituationen erkennt und welche Entspannungsmöglichkeiten es abseits vom Alkohol gibt. Das Projekt ist inzwischen wissenschaftlich evaluiert: In einer Langzeitstudie zeigte sich, dass Konsum und depressive Symptome als häufige Begleiterscheinung nachhaltig reduziert werden können.
Sich mithilfe von Online-Tools von der Sucht zu lösen, sei nicht für alle Betroffenen gleichermaßen hilfreich, betont Malischnig: "Es gibt ein breites Spektrum an Bedürfnissen bei Betroffenen, manche schätzen die niederschwellige und komplett anonyme Unterstützung im Netz, andere brauchen intensivere Begleitung."
Mit der Eindämmung des Virus besteht die Chance, problematisch gewordene Trinkgewohnheiten wieder loszuwerden. Dieser Aufgabe muss man sich nicht alleine stellen: "Es gibt flächendeckend Suchtberatungsstellen, die maßgeschneiderte Behandlungsmöglichkeiten anbieten", sagt Preinsperger. "Das Wichtigste ist, dass die Betroffenen den Weg zu uns wagen und sich uns anvertrauen."
Anton-Proksch-Institut
Das Therapiezentrum berät und behandelt Menschen mit Alkoholabhängigkeit ambulant und stationär
Verein Dialog
Der Verein Dialog bietet Beratung für Suchtgefährdete, ebenso wie der Verein Grüner Kreis und die Organisation PASS
Regionale Anlaufstellen
Einen Überblick über Beratungsangebote in den Bundesländern finden Sie auf der Homepage der Initiative "Dialogwoche Alkohol": www.dialogwoche-alkohol.at/ handeln/beratungsstellen
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