Die Folgen des langen Sitzens (und wie Sie sie ausgleichen können)
Wir sitzen. Und das die meiste Zeit. Laut Studien verbringen wir 50 bis 70 Prozent der wachen Zeit auf einem Sessel – im Job und im Alltag. Morgens beim Frühstück, am Weg zur Arbeit im Auto oder in der U-Bahn, am Schreibtisch im Büro, in der Kantine beim Essen, abends im Kino- oder Theatersessel, später am Sofa, bis wir schließlich zu Bett gehen und liegen. „Wir haben eine Epidemie der körperlichen Inaktivität, die über uns hereinschwappt“, sagt Sportmediziner und Kardiologe Josef Niebauer.
Die Folgen dieser Trägheit sind weitreichender, als sich viele bewusst sind. Britische Wissenschafter haben 18 existierende Studien mit knapp 800.000 Probanden analysiert und kommen zu dem Schluss, dass ein Vielsitzer ein erhöhtes Risiko von Diabetes, Herzkrankheiten und einem frühen Tod hat. Die Probanden, die am längsten saßen, wiesen sogar ein um 49 Prozent höheres Sterberisiko auf als die mit der kürzesten Sitzzeit.
Besonders starke Auswirkungen habe das Sitzen auf das Diabetesrisiko, da das lange Verharren die Glukosewerte beeinflusse und somit die Insulinresistenz erhöhe. „Sitzen ist das neue Rauchen“ titeln Zeitungen und Buchautoren und machen damit auf die gesellschaftliche Relevanz dieses Themas aufmerksam.
Die Folgen gelten laut den Forschern jedoch nicht für diejenigen, die täglich 60 bis 70 Minuten mit circa 5,6 km/h zu Fuß gehen oder mit 16 km/h Radfahren. Auch Josef Niebauer, der das Institut für Sportmedizin am Uniklinikum Salzburg leitet, interpretiert die Daten dieser Studie in diesem Sinne: „Wenn Sie acht Stunden am Tag sitzen und eine Stunde täglich Sport treiben, ist Ihr Risiko wieder ausgeglichen“, sagt er.
Sport sei demnach definiert mit schnellem Spazierengehen oder langsamem Radfahren. So lasse sich die Bewegung auch in den Alltag integrieren, mit dem Rad ins Büro oder ein paar U-Bahn-Stationen früher aussteigen und zu Fuß nach Hause gehen – da sei schon viel gewonnen.
Geschichte des Sitzens
Doch wie ist es überhaupt so weit gekommen, dass sich der einstige Jäger und Sammler mittlerweile oft nur noch bewegt, wenn er vom Bürosessel auf die Couch wechselt? Sogar Platz nehmen will, während er sich fortbewegt? Weder in der Antike noch im Mittelalter oder der frühen Neuzeit sind die Menschen im Alltag gesessen. Der Thron als Sitzgelegenheit war Königen, Kaisern und Bischöfen vorbehalten. Erst um 1500 haben die Bürger Mitteleuropas mit zunehmendem politischen Einfluss die Thronhaltung der Herrscher übernommen und mit einem Tisch kombiniert.
Sessel waren jedoch aufwendig in der Herstellung und daher teuer, bis der Tischlermeister Michael Thonet im 19. Jahrhundert mit der Technik des Holzbiegens den Stuhl Typ Nr. 14 fertigen konnte, der heute als Wiener Kaffeehausstuhl weltbekannt ist. Auf dem Weg vom homo erectus zum homo sedens kommt allerdings auch noch hinzu, dass sich die Arbeitsgewohnheiten der Menschen in industrialisierten Ländern drastisch verändert haben. Bei der Gesundheitsbefragung 2014 gaben 40,2 Prozent der österreichischen Arbeitnehmer an, bei der Arbeit vorwiegend zu sitzen oder stehen und nur leichter körperlicher Anstrengung ausgesetzt zu sind.
Kein Wunder, dass der Anteil der Menschen mit Rückenschmerzen von 14,8 Prozent im Jahr 1973 auf 42,9 Prozent im Jahr 2016 gestiegen ist und sich fast verdreifacht hat. Somit sind chronische Rückenschmerzen auch Hauptursachen für Krankenstände und Berufsunfähigkeits- bzw. Invaliditätspensionen.
Ein Angestellter sitzt im Laufe seines Lebens immerhin durchschnittlich 55.000 Stunden, verbringt nur 6500 Stunden in Bewegung und 3000 Stunden stehend. Dabei ist das Sitzen laut Anthropologen nicht in unserer DNA verankert, sondern durch einen Zivilisierungsprozess zu einem gesellschaftlichen Standard avanciert. Der Mensch wurde zum verstuhlten Wesen, das leidenschaftlich sitzt und dabei verdrängt, dass diese Angewohnheit der Gesundheit schadet.
Auf ein Bier zu gehen, bedeutet eigentlich im Lokal zu sitzen, sich auf einen Kaffee zu treffen ebenso. Warum nicht lieber mit den Freunden einen gemeinsamen Spaziergang unternehmen? „Wir sitzen nur noch und haben dabei keinen Ausgleich. Wir kommen vom vielen Sitzen nach Hause und müssen uns im Sitzen erholen“, beklagt Kardiologe Niebauer.
Erschwerend komme hinzu, dass wir uns wie Schwerstarbeiter ernähren würden, was dazu führt, dass bereits fast jeder zweite Österreicher übergewichtig ist. „Wir meiden alles, was auch nur irgendwie mit Bewegung zu tun hat“, sagt Niebauer und verweist darauf, dass Sport und Schwitzen keine Krankheiten seien. Nach einem Langstreckenflug beispielsweise die Rolltreppe zu benutzen, versteht er gar nicht. Selbst jemand, der acht Stunden auf den Bürosessel angewiesen ist, könne ausgleichende Maßnahmen ergreifen. Während er das sagt, steht er selbst auf einem Wackelbrett, sei dadurch konzentrierter und übe seine Koordination.
Sein eindringlicher Rat ist, sich neben der bewussten körperlichen Betätigung auch den Alltag möglichst unbequem, also möglichst aktiv zu gestalten. „Mit Ausnahme von Sitzplätzen und Aufstiegshilfen für tatsächlich Bedürftige würde ich alle Sitze aus der U-Bahn rausschrauben und Aufzüge erst ab dem fünften Stock einbauen“, sagt er.
Das bedeutet auch, nicht den Parkplatz neben dem Bürogebäude zu benutzen, sondern bewusst einen weiter weg gelegenen, Treppensteigen statt Liftfahren, den Drucker im anderen Stockwerk benutzen, die Post nicht vom Boten bringen lassen, sondern selbst abholen, beim Telefonieren aufstehen. All das rege den Kreislauf an und steuere dem schädlichen Sitzen entgegen.
Alternativen
Neben der fehlenden Anregung des Herz-Kreislauf-Systems ist aber auch die Haltung ein gesundheitsschädlicher Faktor. „Viele Menschen neigen bei konzentrierten Arbeiten am Bildschirm oder Schreibtisch zu einer stundenlangen, vorgebeugten und verkrampften Haltung – ohne es zu merken. Über die Dauer eines Arbeitslebens betrachtet, sind bei solchen Sitzhaltungen Langzeitschäden nicht ausgeschlossen“, sagt Ramin Ilbeygui, Facharzt für Orthopädie.
Abhilfe schaffen beispielsweise Sitzbälle, die vom Benutzer ein regelmäßiges Korrigieren der Sitzposition durch kleine Ausgleichsbewegungen fördern, oder Stehpulte. Eine neuartige Möglichkeit, Computerarbeit mit Bewegung zu kombinieren, sind die sogenannten „Treadmill Desks“. Diese Laufbandarbeitsplätze ermöglichen es, die Arbeit am PC gehend bei zwei bis drei km/h zu erledigen. Durch die so in den Arbeitsalltag integrierte Bewegung können Büroangestellte Rücken- und Nackenbeschwerden präventiv vorbeugen.
In Österreich hat beispielsweise die Rewe International AG zwei dieser Geräte in der Zentrale installiert, um die Mitarbeitergesundheit zu fördern. „Die Tätigkeiten bei uns in der Zentrale sind bei den meisten Mitarbeitern mit langem Sitzen verbunden. Der ‚Treadmill Desk‘ soll hier Abhilfe schaffen und Arbeit mit Bewegung verbinden“, sagt Pressesprecher Paul Pöttschacher. Obwohl es sich um ein Pilotprojekt handelt, gebe es Mitarbeiter, die täglich darauf gehen und von Verbesserungen von Rückenschmerzen und Verspannungen im Nackenbereich sowie Konzentrationssteigerung berichten.
Gibt es im Betrieb keine Alternativen zum einfachen Sessel, bleiben auch hier Möglichkeiten, das Sitzen möglichst unschädlich zu gestalten. Besonders wichtig ist es, möglichst oft die Position zu wechseln und so Dynamik ins Sitzen zu bringen: aufrecht, vorgebeugt oder nach rückwärts geneigt. Die Rückenlehne des Stuhls sollte sich dabei der jeweiligen Position anpassen und auf diese Weise den Bewegungsapparat stützen. Die unterschiedlichen Sitzhaltungen sollten dann die Durchblutung der Muskulatur fördern, wodurch auch die Bandscheiben besser mit Nährstoffen versorgt werden.
Wichtig wäre auch ein ergonomischer Sessel, der den muskulären Halteapparat entlastet und Bewegungsanreize setzt, beispielsweise durch eine flexible Rückenlehne oder eine variable Sitzfläche. Also ja, um möglichst ohne gesundheitliche Schäden nach der Arbeit nach Hause zu kommen, heißt es selbst beim Sitzen: Bewegen Sie sich!
So bringen Sie Bewegung in den Büroalltag
Aktiv werden und jede Bewegungsmöglichkeit nutzen
Ein Wasserglas statt eines Wasserkrugs auf den Tisch stellen, so müssen Sie öfters zum Wasserhahn gehen.
Anstatt eine E-Mail zu schreiben, aufstehen und zum Kollegen gehen.
Das Mittagsessen nicht am Schreibtisch essen, sondern am besten außerhalb, um dieses mit einem kleine Spaziergang zu verbinden.
Halten Sie Meetings wenn möglich im Stehen ab, stehen Sie bei jedem Telefonat auf und versuchen Sie, Stehpulte und Gymnastikbälle als Sitzalternative einzubauen.
Fahren Sie – wenn möglich – mit dem Rad statt mit dem Auto oder den öffentlichen Verkehrsmitteln. Falls Sie doch das Auto nehmen, parken Sie auf einem Parkplatz, der weiter vom Eingang entfernt ist.
Benutzen Sie statt Rolltreppe und Aufzug die Stiegen.
Ergonomische Richtlinien am Arbeitsplatz beachten und zudem darauf achten, mehrmals pro Stunde die Haltung zu wechseln: mal vorgeneigt, mal aufrecht und mal zurückgelehnt.
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