Eine banale Erklärung: Es gibt einfach einen Erreger für Atemwegserkrankungen mehr als früher, nämlich SARS-CoV-2. „Wenn es das Coronavirus nicht gäbe, hätten wir um ein Viertel weniger Infekte“, sagte die deutsche Mikrobiologin Jana Schroeder zur Süddeutschen Zeitung. Hinzu kommt, „dass sehr viele Menschen sehr unvorsichtig sind und sich mit Erkältungssymptomen in die öffentlichen Verkehrsmittel setzen, was die Virenausbreitung weiter beschleunigt“, sagt Sylvia Knapp, Professorin für Infektionsbiologie an der MedUni Wien. „Überdies ist man bereits vor den ersten Symptomen infektiös.“
Ist das Coronavirus auch infektiöser geworden?
Derzeit nimmt der Anteil der Omikron-Untervariante JN.1 stark zu. Sie besitzt eine genetische Veränderung (Mutation), die es ihr erleichtert, Zellen zu infizieren und bestehende Antikörper zu umgehen. Die Folge: Ein Corona-Infizierter steckt mittlerweile acht bis neun andere Menschen an, bei einer Influenza sind es zwei, sagt Jana Schroeder.
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Kann durch die Pandemie-Maßnahmen das Immunsystem geschwächt sein, weil es „unterbeschäftigt“ war?
„Nein“, sagt Knapp. „Das Immunsystem ist permanent damit beschäftigt, irgendwelche Keime in Schach zu halten. Ein gutes Beispiel dafür sind die Herpesviren. Die meisten Menschen sind ihr Leben lang mit einem Herpesvirus infiziert. Gleichzeitig leben Milliarden von Bakterien auf und in uns. Typisch für ein wirklich geschwächtes Immunsystem sind zum Beispiel Pilzinfektionen, aber nicht Atemwegsinfekte.“
Mikrobiologin Schroeder: „Wir müssen nicht krank sein, um gesund zu sein.“ – Knapp: „Man ist ja auch ohne Masken nicht jedes Jahr mit jedem Virus in Kontakt, ich etwa hatte noch nie eine Influenza-Infektion.“
Kann das Immunsystem durch zurückliegende Infektionen geschwächt sein?
„Sind ein oder zwei Wochen nach Beginn einer Infektion die Symptome vorbei, glauben wir, wieder gesund zu sein“, sagt Knapp. „Aber unser Immunsystem bleibt länger, über mehrere Wochen hindurch, verändert. Bei der Influenza weiß man, dass in dieser Phase die Anfälligkeit für bakterielle Infektionen wie Lungenentzündungen steigt und diese dann auch schwerer verlaufen. Bei Covid-19 wiederum steigt mit jeder Erkrankung das Risiko von langfristigen Folgen, aber auch die akuten Erkrankungen können schwer verlaufen. Das Tragen von Masken ist in der derzeitigen Erkrankungswelle deshalb auf jeden Fall empfehlenswert.“ Das Risiko einer Ansteckung mit den hochinfektiösen Virenvarianten lässt sich dadurch reduzieren, aber ganz vermeiden lässt es sich nicht: „Es gibt ja kaum jemanden mehr, der noch nie Corona hatte – und viele, die lange davongekommen sind, erwischt es jetzt.“
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Könnte auch ein Nachholeffekt eine Rolle spielen, dass also jetzt Infektionen nachgeholt werden, die in der Pandemie wegen der Hygienemaßnahmen nicht stattgefunden haben?
Einige Fachleute wollen einen zumindest kleinen Nachholeffekt nicht ausschließen: Dass sich also derzeit noch etwas mehr mit diversen Erregern anstecken, mit denen sie in den Pandemie-Jahren gar nicht oder seltener in Kontakt kamen. Andere Expertinnen und Experten sind skeptisch: Schließlich handle es sich bereits um den vierten Winter seit Pandemiebeginn. Und auch Sylvia Knapp ist von einem merkbaren Nachholeffekt nicht überzeugt: „Was Corona betrifft, kenne ich niemanden, der noch nie eine Infektion hatte.“
Bei Schnupfenviren sei es zwar nicht auszuschließen, dass jetzt die Anfälligkeit etwas höher ist, wenn man in den vergangenen Jahren keine Infektion hatte. „Aber ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich einen relevanten Anteil der derzeitigen Infektionen ausmacht.“ Denn eine Grundimmunität bleibe über viele Jahre bestehen und man habe sich auch vor der Pandemie immer nur mit einigen wenigen von sehr viele Erkältungsviren infiziert. „Es wurde also auch früher nicht jedes Jahr der Schutz gegen alle Viren erneuert.“
Es kursieren auch Behauptungen, dass die Impfungen das Immunsystem beeinträchtigt hätten?
„Da gibt es gar keinen Hinweis darauf, im Gegenteil: Es ist mit unzähligen Studien belegt, wie viele schwere Erkrankungen und auch Todesfälle in der Pandemie durch die Impfungen vermieden wurden“, betont Knapp.
Zum Problem kann es werden, wenn die letzte Impfung zu lange zurückliegt. Lungenfacharzt Arschang Valipour von der Klinik Floridsdorf in Wien berichtete im Ö1-Mittagsjournal, dass beim Großteil der stationären Covid-Patientinnen und -patienten die letzte Impfung „sechs Monate oder länger, großteils sogar zwölf Monate“ zurückliegt. Gerade bei älteren und geschwächten Personen mit chronischen Erkrankungen kann es dann trotz Impfung zu einem schweren Verlauf kommen. „Eine Auffrischung verbreitert den Schutz gegen die aktuellen Virenvarianten“, ergänzt Knapp.
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