Coronavirus: Ein Drittel aller Sterbefälle in Pflegewohnhäusern
Rund ein Drittel der bisherigen 700 Todesfälle in Österreich durch Covid-19 ist auf Infektionen in Pflegewohnhäusern zurückzuführen. "In anderen Ländern ist diese Zahl noch deutlich höher", sagte Mittwoch Caritas-Präsident Michael Landau. Es seien viele Schutzmaßnahmen durchgeführt worden: "Aber jetzt muss das Zeitfenster vor einer zweiten Welle genützt werden." So zeichne sich jetzt schon am Weltmarkt in manchen Bereichen wieder ein Engpass ab, etwa bei Handschuhen. "Noch immer müssen selbst kleine Pflegeanbieter mit großen Staaten wie Indien oder den USA am Weltmarkt konkurrieren." Hier sei eine zentrale Beschaffung von Schutzausrüstung notwendig.
Generell müsse es eine einheitliche bundesweite Strategie geben, bei den rechtlichen Maßnahmen ebenso wie bei den Testungen. "Zumindest für die Dauer der Pandemie sollten wir zentrale Auswüchse des Föderalismus über Bord gehen lassen." Eine bundesweite Corona-Pflege-Taskforce mit Vertretern auch der großen Pflegeeinrichtungen solle dem Krisenstab des Bundes beratend zur Seite stehen. "Wir brauchen eine Strategie im Kampf gegen das Virus und nicht neun verschiedene."
Ein großes Thema sei die medizinische Versorgung in den Pflegewohnhäusern: "Wenn alte und pflegebedürftige Menschen angehalten sind, so wie alle anderen auch, Spitäler nur in Ausnahmefällen aufzusuchen, dann müssen Spitäler und Ärzte in die Pflegewohnhäuser kommen." Es werde immer schwieriger, Kassenärzte für die medizinische Betreuung in Pflegewohnhäusern zu gewinnen, sagte Landau: "Schon in Nicht-Krisenzeiten ist es um diese medizinische Versorgung nicht gut bestellt." In Zeiten einer Pandemie müsse aber eine kontinuierliche medizinische Betreuung in allen Pflegewohnhäusern sichergestellt sein: "Niedergelassene Ärzte müssen diese Arbeit verrechnen können und Pflegeheimträger zumindest während der Krise berechtigt werden, medizinisches Personal anzustellen."
In großen Pflegeheimen wäre es wünschenswert, wenn Ärzte auch länger anwesend wären, sagte Gabriela Hackl, Leiterin des Krisenstabs der Caritas. Aber die Bereitschaft, in den Pflegeeinrichtungen zu arbeiten, sei gerade bei den nachkommenden jungen Hausärzten oft gering.
Unklar sei auch noch, wie die Pflegeheime die zusätzlichen Personalkosten bewältigen können, die etwa durch das Einrichten getrennter Teams entstanden sind. "Und die Mitarbeiter in der Pflege bekamen zwar viel Applaus, aber jetzt sollte es verbindliche Zusagen für Prämien geben."
Landau betonte, es gehe jetzt nicht um Schuldzuweisungen, sondern um einen Weg des gemeinsamen Lernens: "In Zeiten hoher Unsicherheiten und unter zeitlich hohem Druck weitrechende Entscheidungen zu treffen ist nicht leicht. Aber die Sorge vor einer zweiten Welle im Herbst ist begründet und real."
Landau nahm auch zum Thema der Wahrung der Freiheitsrechte Stellung: Hier brauche es klare verbindliche Regelungen, zum Teil hätten sich Bundes- und Landesbestimmungen widersprochen: „Was nicht funktionieren kann, ist, die Leiterinnen und Leiter der Häuser in dieser Situation im Stich zu lassen.“
Gesundheitswesen mit Scheuklappen
"Ich habe den Eindruck gewonnen, dass das Gesundheitswesen von heute auf morgen Scheuklappen aufgesetzt bekommen hat und nur mehr auf die Bewältigung der Covid-Erkrankungen fokussiert hat", sagte Patientenanwalt Gerald Bachinger. Die medizinische Grundversorgung in den Pflegeheimen und von chronisch Kranken sei vollkommen in den Hintergrund getreten: "Bei vielen Patienten ist die Vertrauensbasis weggebrochen." Diese Vorgangsweise sei in der ersten Phase angesichts der internationalen Entwicklung noch verständlich gewesen, müsse jetzt aber anders werden.
Die östereichischen Patientenanwälte dokumentieren derzeit gerade für das Gesundheitsministerium 200 Beschwerdefälle im Zusammenhang mit der Corona-Krise. Darunter gebe es auch "ganz klare Verdachtsmomente, dass möglicherweise medizinische Behandlungsfehler vorgefallen sind, weil eine notwendige Betreuung und Behandlung nicht zeitgerecht, sondern verzögert durchgeführt wurde". Dies könnte dazu geführt haben, dass die Folgen einer Operation schwerwiegender waren.
Drei Problemfelder
Drei Punkte seien den Patientenanwälten besonders negativ aufgefallen, sagte Bachinger:
- Das Entlassungsmanagement, also die Unterstützung beim Übergang vom Spitalsaufenthalt zur Betreuung zuhause: "Das wurde von heute auf morgen über Bord geworfen. Wir haben Fallgeschichten von Patienten und Angehörigen. Die Patienten wurden von heute auf morgen vor die Tür gesetzt, ohne dass irgendeine Form von Entlassungsmanagement durchgeführt worden ist."
- In psychiatrischen Abteilungen habe es massive Einschränkungen des Angebotes gegeben. "Jetzt frage ich mich, wo braucht man im psychiatrischen Bereich Betten für Intensivkranke, oder wo sind da Intensivmediziner tätig?" Da seien einige Puntkte, denen man noch nachgehen müsse, warum hier so ein starkes Rückfahren des Betriebes stattgefunden hat.
- Der Ambulanzbetrieb: "Hier gab es ganz starke Einschränkungen, z.B. bei Diabeteskranken. Oder Schmerzambulanzen, da gab es von heute auf morgen Einstellungen, und das hat für viel Leid bei den Patienten gesorgt."
Als "vollkommen falsch" kritisierte Bachinger die Entscheidung der Österreichischen Gesundheitskasse, ab Ende August die telefonische Krankschreibung zurückzunehmen. "Das ist das vollkommen falsche Signal an die Patienten und Ärzte. Sofort tritt jetzt wieder das Misstrauen in den Vordergrund." Stattdessen sollte man den telemedizinischen Bereich aktiv ausbauen. So sei das elektronische Rezept ein Erfolgsmodell: "Die Patienten rufen uns an und sagen uns, sie wollen auf keinen Fall, dass das zurückgenommen wird."
Die frühere Gesundheitsministerin Maria Rauch-Kallat (ÖVP) sagte, der Ausdruck "Speed kills" (Schnelligkeit tötet) habe beim Coronavirus eine neue Bedeutung bekommen: "Je schneller wir testen, desto weniger Chancen geben wir dem Virus." Für Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) gab es großes Lob von Rauch-Kallat: "Er macht seine Sache hervorragend."
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