"Es erscheint unverständlich, warum sich Betroffene keine Hilfe geholt haben." Grundsätzlich gelte es, zwischen Neonatiziden, Infantiziden und Filiziden, Fachbegriffe für das Töten von Kindern, zu unterscheiden, sagt Klier, die seit Jahren an der MedUni zu den Hintergründen von Kindestötungen forscht.
Ein Neonatizid trägt sich unmittelbar in den Stunden nach der Geburt zu, ist von einer massiven Stress- und Panikreaktion der Mutter gekennzeichnet und wird meist aufgedeckt, weil die Mutter nach der Geburt selbst medizinische Hilfe benötigt. "Der Neonatizid wird ausschließlich von Müttern verübt, der Infantizid selten auch durch Väter, spätere Filizide häufiger durch Mütter, aber auch Väter", beschreibt Klier.
Der Infantizid ist die Tötung im ersten Lebensjahr und wird durch sogenannte postpartale Störungsbilder begleitet, psychische Erkrankungen, die nach der Entbindung bei Frauen auftreten können. Schütteltraumen etwa zählen auch zu den Infantiziden, wobei das Schütteln des Babys mit Todesfolgen auch von Vätern verübt wird.
"Im Rahmen von Infantiziden sind häufig Gefühle der Ablehnung des Kindes, aber auch ein Nicht-Wahrhabenwollen präsent", weiß Claudia Reiner-Lawugger, Leiterin der Spezialambulanz für peripartale Psychiatrie (umfasst Versorgung von Müttern und Vätern vor, während und nach der Geburt) an der Klinik Ottakring. "Ich kenne die Patientin nicht und kann keine konkreten Einschätzungen treffen, aber in solchen Fällen entwickeln Mütter oft eine postpartale Psychose und können nach der Geburt nicht wirklich mit ihrem Kind in Kontakt treten."
Bei einer postpartalen Psychose leiden Betroffene neben innerlichen Spannungszuständen, Stress, Schlaflosigkeit und Niedergeschlagenheit an ganz spezifischen Ängsten. "Letztere münden in eine Gedankenspirale, die große Verzweiflung mit sich bringt und zu Taten im Affekt führen kann", sagt Reiner-Lawugger. Bei einer Psychose sei die Selbstbestimmtheit der Mutter unterbrochen: "Sie kann nicht mehr klar entscheiden, ihre Wahrnehmung durch Stimmenhören oder wahnhafte Gedanken getrübt sein."
Oft würden Frauen im Weglegen oder Töten des Kindes einen letzten Ausweg sehen. "Wobei die Tat in einem dissoziativen Zustand erfolgt", sagt Reiner-Lawugger. Viele Mütter würden etwa danach erstaunt das leere Bettchen betrachten, "weil die Tat ihnen nicht erinnerlich ist und es sich so anfühlt, als hätte sie ein anderer Teil von ihnen verübt".
Sechs bis acht Fälle pro Jahr
In Österreich wird in etwa alle zwei Monate ein Kind getötet. "Wobei die Zahlen glücklicherweise etwas rückläufig sind und sich in auf sechs bis acht Fälle pro Jahr eingependelt haben", sagt Klier. Im aktuellen Fall ereignete sich die Tat in einer Gesundheitseinrichtung. Dass der psychisch prekäre Zustand einer Mutter trotzdem unbemerkt bleibt, komme nicht selten vor, sagt Reiner-Lawugger: "Oft wirken die Frauen normal in ihrem Verhalten, weil sie Tötungsgedanken abspalten."
Geburtskomplikationen, etwa ein Not-Kaiserschnitt, oder auch eine Frühgeburt sind per se keine Risikofaktoren für die Entstehung einer postpartalen Depression oder Psychose. "Das begünstigt vielleicht Stress, Neonatizide oder Infantizide kommen aber auch bei Babys vor, die zum Termin geboren werden", sagt Reiner-Lawugger. Eine bestehende psychische Erkrankung oder Labilität der Mutter muss nicht zwingend vorliegen, kann das Risiko aber erhöhen.
Tabubehafteter Umgang
Kürzlich wurde in Wien ein vierjähriges Kind mutmaßlich von seiner Mutter getötet. Sie hatte im Vorfeld Hilfe wegen psychischer Probleme gesucht: "Aus Studien wissen wir, dass das auf mehr als die Hälfte aller Täterinnen und Täter im Fall von Kindstötungen zutrifft", sagt Klier. Männer würden Filizide oft in bevorstehenden Trennungssituationen begehen. "Aus Angst vor dem Verlust des gesamten Lebenszusammenhanges." Oft spielt Substanzkonsum eine Rolle. Häufig begehen Täter danach Suizid. Bei Frauen würden oft schwere psychische Erkrankungen vorliegen, "die auch durch den tabubehafteten Umgang damit verborgen bleiben".
Bei Neonatiziden kommt es oft bereits vor der Geburt zu Auffälligkeiten: Die Mutter nimmt etwa die Schwangerschaft nicht wahr, entdeckt erst spät, dass sie ein Kind erwartet. "Manchmal negieren Frauen sogar die Möglichkeit, überhaupt schwanger werden zu können, und verhüten deswegen nicht", sagt Klier. Insbesondere Neonatizide haben sich durch das Angebot der anonymen Geburt in Österreich stark verringert. "Wir appellieren eindringlich an Frauen, die anonyme Geburt in Anspruch zu nehmen, weil sie im Spital unterstützt werden und ihr Kind sicher auf die Welt bringen können."
Bewusstsein stärken
Wichtig, das betonen Klier und Reiner-Lawugger, sei, dass das Bewusstsein für postpartale Krisen in der Bevölkerung steigt. "Bei einem Herzinfarkt wissen die Menschen meist über Anzeichen und Erste-Hilfe-Maßnahmen Bescheid. Das sollte auch bei psychischen Ausnahmesituationen von Müttern und Vätern der Fall sein", sagt Klier.
Wenn Frauen nach einer Entbindung in seelische Schieflagen schlittern, haben sie nicht selten Gewalterfahrungen gemacht. Für Klier sind Maßnahmen, die gegen Gewalt an Mädchen und Frauen abzielen, deshalb eine unabdingbare präventive Maßnahme.
"Wesentlich ist auch, dass man sich Hilfe holt", ergänzt Reiner-Lawugger. Wenn Frauen und Männer vor und nach der Geburt auf ein soziales Netz zurückgreifen können, sei das eine Ressource: "Dass sie in Schwangerschaftsvorbereitungskurse gehen, mit Hebammen und Gynäkologen Kontakt haben und jederzeit offen mit einem zugewandten Umfeld sprechen können."
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