Abwassermonitoring: "Aufs Klo geht jeder, zum Covid-Test nicht"
"Frisch gezapft!" Erfreut hält Norbert Kreuzinger die weiße Plastikflasche gefüllt mit einem Liter Abwasser hoch. Der leichte Kanalgeruch stört ihn nicht. Kreuzinger ist wissenschaftlicher Leiter von "CSI Abwasser", ein Projekt der Stadt Wien, mit dem die Wiener Kläranlage und die Technische Universität Wien (TU) die Verbreitung des Coronavirus über das Abwasser verfolgen. Denn: Mit dem Stuhl werden kleinste Viruspartikel ausgeschieden, die trotz starker Verdünnung im Abwasser nachweisbar sind.
Im Ein-Liter-Behälter befindet sich die Tagesmischung – eine Probe, die über 24 Stunden maschinell aus dem Abwasser gezogen wurde. Dies erfolgt jeden Tag, um die Reinigungsleistung in der Kläranlage zu überprüfen. In Simmering kommt das gesamte Abwasser Wiens, jede Dusche, jede Klospülung, zusammen.
Die Probe wird nach der ersten Grobreinigung, bei der unter anderem Zigaretten, Feuchttücher und Abschminkpads herausgefischt werden, gezapft. Dreimal wöchentlich wird eine Probe gekühlt in einer Styroporbox in ein Labor der TU gebracht – einmal pro Woche nimmt Kreuzinger selbst ein Fläschchen in seinem Kofferraum mit. Das Ziel: SARS-CoV-2 aufzuspüren.
Schon vor der Pandemie analysierte er das Abwasser auf Antibiotikaresistenzen, auch Drogen werden nachgewiesen. Die Suche nach Krankheitserregern hat aber erst in den letzten zwei Jahren Fahrt aufgenommen. "Die Viruskonzentration im Abwasser ist sehr gering, zudem sind Chemikalien wie Tenside aus Seifen oder Enzyme enthalten – ich habe nicht gedacht, dass die virale RNA (Ribonukleinsäure, Anm.) das überlebt."
So wird das Abwasser getestet
Gut geschüttelt
Das tut sie – wie sich im TU-Labor bei Molekularbiologin Gabi Eder zeigt. Jede Abwasserprobe der Stadt, die auf SARS-CoV-2 untersucht wird, geht durch ihre Hände. Eder schüttelt das weiße Fläschchen einmal gut durch und entnimmt 50 Milliliter. Ansteckend ist das Virus nicht mehr – die Partikel überleben zwar, das Spike-Protein, über das das Virus in menschliche Zellen eintritt, wird aber im Abwasser so verändert, dass es nicht mehr andocken kann.
Die Probe wird zentrifugiert, um grobe Partikel wie Fasern von Klopapier entfernen zu können. Anschließend werden chemische Verbindungen hinzugefügt, damit sich die Virusbestandteile absetzen und mit einem Roboter "aus dem Abwassercocktail herausgefischt" werden können, erzählt Eder. Das winzige Virusextrakt kommt dann in ein PCR-Gerät – dieselbe Methode, mit der auch Abstriche und Gurgeltests ausgewertet werden.
Virusmenge in der Probe
Die Maschine erstellt Kopien der RNA und misst, wie viel davon vorhanden ist. Je mehr Kopiervorgänge nötig sind, um Material nachzuweisen, desto weniger ist in der Probe. Das Ergebnis ist wie beim Covid-Test ein CT-Wert, von dem aus die Forscher die Konzentration in der untersuchten Abwassermenge errechnen. Als Faustregel gilt: Ist eine Person von 10.000 infiziert, ist das nachweisbar.
Die Ergebnisse aus dem Abwasser werden jeweils mit den Daten der Covid-Fälle verglichen. "Das Abwasser ist ein vollständiges Bild – aufs Klo geht jeder, zum Covid-Test nicht", sagt Kreuzinger. Abweichungen deuten also auf eine Dunkelziffer beim Testen hin. Eine Hochrechnung aus dem Abwasser, wie viele Menschen gerade positiv sind, hält Kreuzinger für sehr ungenau. "Man kann aber sagen, wie viel Virusmenge in einem Milliliter Abwasser ist und daraus errechnen, ob Infektionen zu- oder abnehmen." Zudem sind die Abwasser-Daten den Testzahlen meist ein paar Tage voraus – abhängig vom Testverhalten.
Affenpocken, Influenza
Neben SARS-CoV-2 sucht Kreuzinger anlassbedingt – in der Wintersaison etwa nach Influenzaviren. Als die unerklärlichen Hepatitisfälle bei Kindern auftraten, wurde nach Adenoviren, die als Auslöser im Verdacht standen, gesucht. Auch Affenpocken sind nachweisbar.
Wöchentlich wird entschieden, welche Erreger relevant sind. Nach etwas zu suchen, "nur, weil man es kann", hält er für nicht sinnvoll. Das gilt laut Kreuzinger etwa für Polioviren, deren reiner Nachweis anders als bei SARS-CoV-2 nicht ausreicht – hier brauche es zusätzliche Analysen. Nachdem die Abwasserprobe aufbereitet und die Virenmenge bestimmt wurde, kommt sie in ein Labor der Medizinischen Universität Wien und des CeMM (Forschungszentrum für Molekulare Medizin), geleitet von Virologen Andreas Bergthaler.
Nationales Monitoring
Zwischen Kühlschränken und PCR-Geräten, die außen Kopierern ähneln, laufen hier Proben aus 24 Kläranlagen Österreichs für das Nationale Abwassermonitoring zusammen. "Die Proben werden im Biosequenzierlabor am CeMM sequenziert, das heißt, es wird untersucht, welche Virusvarianten enthalten sind. Dazu braucht man gewisse Suchprofile, jede Variante hat ihren Steckbrief. Bei der Alpha-Variante wussten wir etwa, dass es 25 bestimmte Mutationen gibt. Man hat also eine Idee, wonach man sucht", sagt Bergthaler.
Zur Variantenbestimmung werden zuerst kurze Genomabschnitte mit PCR-Geräten vervielfältigt und dann die Abfolge der Basen – die einzelnen Bausteine der Erbinformation – für jedes dieser Fragmente abgelesen. Die Basenabfolge wird dann mit einer von Bergthalers Team eigens entwickelten Software, die international viel Anerkennung erhielt, mit den Abfolgen bekannter Mutationen verglichen.
Interview mit Forscher Andreas Bergthaler
"Das Ergebnis ist letztlich ein Prozentsatz, wie gut die Basenabfolge zu bekannten Mutationen des Virus passt", erklärt Bioinformatiker Fabian Amman. Für den Laien ist die Abfolge von bunten Strichen und grauen Balken nicht lesbar, die Profis können so aber auch neue Varianten entdecken. "Das Virus hat weltweit ähnliche Mutationen entwickelt. Das spricht für einen Selektionsdruck und betrifft vor allem Eigenschaften, mit denen sich SARS-CoV-2 dem Immunsystem entziehen kann", sagt Bergthaler.
Neue Varianten
Nach den aktuellen Abwasseranalysen dominiert in Österreich nach wie vor die Variante BA.5, wobei Subvarianten mit zusätzlichen Mutationen wie BF.7 oder BQ.1 zunehmen. "Es wird wieder spannender als es im Sommer war", meint Amman. Der Bioinformatiker hat zehntausende Mutationen gesehen – relevant ist nur ein Bruchteil.
Ab wann eine Variante als besorgniserregend gilt, hänge damit zusammen, wie sehr sie über mehrere Wochen an verschiedenen Orten zunimmt. Auch diese Auswertung erfolgt im Monitoring: Die Daten der verschiedenen Kläranlagen werden über eine Österreich-Landkarte gelegt. Daraus lässt sich ableiten, ob es regionale Maßnahmen braucht oder worauf sich das Gesundheitssystem einstellen muss.
Österreich gilt international als Vorreiter. Norbert Kreuzinger reist regelmäßig in den Kaukasus, um beim Aufbau eines Monitorings zu unterstützen. Andreas Bergthaler sieht großes Zukunftspotenzial. "Aus einer Probe können tausende Viren analysiert werden. Man kann etwa im Abwasser von Gebäuden wie Pflegeheimen bestimmte Viren finden, um Maßnahmen zur Eindämmung rechtzeitig zu ergreifen. Die Abwasseranalyse hat durch die Pandemie massiv Schwung gewonnen."
Und die fertig analysierten Proben? Sie werden bei minus 80 Grad Celsius eingefroren – "so lange wie Platz in den Gefrierschränken ist", sagt Kreuzinger.
Nationales Monitoring
Erste Analysen begannen in Österreich bereits kurz nachdem im Februar 2020 die ersten Covid-Fälle in Österreich auftraten. Seit Jänner 2022 wird Abwasser aus 24 Kläranlagen in einem nationalen Monitoring analysiert. Diese Anzahl soll erhöht werden.
Schulstandortmonitoring
Im Schuljahr 2021/22 wurden Proben aus etwa 100 Kläranlagen in Orten mit großen Schulen untersucht. Im August endete das Projekt, viele Bundesländer führen es weiter.
Wiener Monitoring
Etwa 135 Liter Abwasser fließen täglich pro Person ins 2.500 Kilometer lange Wiener Kanalnetz. Dazu kommt Abwasser von Industrie. Neben Kläranlagen kann es auch an bestimmten Punkten, etwa am Flughafen, entnommen werden.
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