Die Schweizer Neutralität. Eine Identität für jeden

Es war ein heißer Tag – und die Stimmung dürfte dem Wetter in nichts nachgestanden haben: Am 16. Juni 2021, trafen Joe Biden und Wladimir Putin zum ersten – und bisher letzten Mal – aufeinander. Schauplatz des historischen Treffens: Genf – wieder einmal. 35 Jahre zuvor hatte hier das erste Gipfeltreffen von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow stattgefunden, das das Ende des Kalten Krieges einläuten sollte.
Als "Bühne der großen Politik" bezeichnet die Neue Zürcher Zeitung "die kleine Schweiz" – so sieht und verkauft sie sich gerne und gut, seit ihr beim Wiener Kongress 1815 die "immerwährende Neutralität" zugestanden wurde. Als Teil der neu verhandelten europäischen Ordnung nach Napoleons Vorherrschaft.
Somit wurde die Eidgenossenschaft künftig nicht nur von außen in Ruhe gelassen, sondern schaffte Zusammenhalt unter den eigenständigen Kantonen: Im Ersten Weltkrieg, als die Westschweiz nach Paris, die Deutschschweiz nach Berlin schielte, hielt sie das Land zusammen.
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Nach den Weltkriegen sorgte sie für die international geachtete diplomatische Reputation der Schweiz: 1955 verhandelten USA, Sowjetunion, Großbritannien, und Frankreich in Genf über die Neuordnung der Welt; 1962 brachte man Frankreich und die algerischen Nationalkämpfer an einen Tisch. Im Iran vertritt sie die Interessen der USA, in Georgien die Russlands und umgekehrt.
Seit Ende des Kalten Krieges und des Blockdenkens wird die Neutralität immer heißer diskutiert: Jene, die es weniger gut mit ihr meinen, nennen sie eine "Trittbrettfahrerin" und "Rosinenpickerin", die am EU-Binnenmarkt mitnascht und mit der NATO gemeinsam Sache macht, sich aber nicht fix binden will. Die Neutralität, ein bequemer Status quo, hinter dem man sich verstecken kann. Denselben Vorwurf wie Österreich muss sich auch die Schweiz oft gefallen lassen.
Wandelbar und beliebt, ...
Geregelt ist die Neutralität nicht nur durch das vor 116 Jahren unterzeichnete Neutralitätsrecht, sondern auch durch die weit gefasste Neutralitätspolitik, die der Regierung das Regieren erlaubt. Bei der Bevölkerung erfreut sie sich wohl gerade durch diese großzügige Interpretierbarkeit großer Beliebtheit: Einer Studie der ETH Zürich zufolge befürworten ganze 91 Prozent der Schweizer Bevölkerung die Neutralität.
Der Krieg in der Ukraine macht es den Helvetiern nicht leichter: vom Mitziehen der Schweiz bei EU-Sanktionen gegen Russland, über den zweijährigen Beisitz im UN-Sicherheitsrat als nichtständiges Mitglied, die Blockade der Weitergabe von Schweizer Kriegsmaterial bis zur Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij im Schweizer Parlament. Aktuell sorgt die Schweizer Teilnahme am "European Sky Shield" für Debatten. Eine gemeinsame Luftraumverteidigung widerspreche der Neutralität nicht, erklärte die Schweizer Verteidigungsministerin Viola Amherd zuletzt, da es um Kooperationen in Ausbildung, Unterhalt und Logistik gehe, nicht um eine Mitwirkung an internationalen militärischen Konflikten.
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... aber auch umstritten
Im Oktober wird in der Schweiz gewählt. Die rechtsnationale Schweizerische Volkspartei, die mehr als ein Viertel der Wähler hinter sich hat, stellt sich als einzige gegen die Russland-Sanktionen. Die liberale, europafreundliche "Operation Libero" nennt die Neutralität ein "Disneyland der Selbstlüge“ und fordert Waffen für die Ukraine. Micheline Calmy-Rey, sozialdemokratische Ex-Außenministerin und zweimal Bundespräsidentin, die eine "aktive" Neutralität prägte, sprach sich zuletzt gegen Waffenexporte aus – "die immerwährende Neutralität der Schweiz wäre nicht mehr glaubwürdig".
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