Verdauung beginnt im Mund
Wissenschafterinnen und Wissenschafter begaben sich auf die Spuren eines bestimmten Gens. Das AMY1-Gen erlaubt es dem Menschen, Stärke leichter zu verdauen, indem sie in Einfachzucker aufgespalten wird, den unser Körper gut zur Energiegewinnung nutzen kann. Möglich macht dies das Enzym Amylase im Speichel, für dessen Produktion AMY1 verantwortlich ist. Ohne diesen Prozess wären wir nicht in der Lage, Lebensmittel wie Kartoffeln, Nudeln, Reis oder Brot zu verdauen.
Die Evolution des Gens könnte in die Zeit vor rund 11.000 Jahren zurückdatieren – lange vor dem Aufkommen der Landwirtschaft und des Getreideanbaus, wie CNN unter Berufung auf die Studie berichtet.
Die US-Forschenden analysierten Genome von 68 frühen Menschen. Die genetische Entwicklung könnte sogar Hunderttausende von Jahren zurückreichen, lange bevor sich der Homo sapiens oder der Neandertaler entwickelt haben.
Auf den Verzehr von Kohlenhydraten programmiert
Heute besitzt der Mensch mehrere Kopien des AMY1-Gens. Die genaue Zahl ist individuell verschieden. Bisher war unklar, wie und wann sich die Anzahl dieser Gene dupliziert, also vergrößert, hat – ein Hinweis darauf, wann der Verzehr von Stärke vorteilhaft für die Entwicklung des Menschen wurde.
Unter genetischer Duplikation versteht man die Verdoppelung eines Gens. Es ist infolge in größerer Zahl verfügbar, was die Anpassung an neue Umweltbedingungen und Lebensräume erleichtert.
Man konnte nachweisen, dass bereits Jäger und Sammler – deren Lebensweise der Landwirtschaft vorausging – vier bis acht Kopien von AMY1 besaßen. Was darauf hindeutet, dass der Homo sapiens, auf den Verzehr von Kohlenhydraten programmiert war, lange bevor Kulturpflanzen gezielt angebaut und geerntet wurden.
Eine Duplikation des AMY1-Gens wurde auch in Genomen von Neandertalern sowie Denisova-Menschen gefunden, eine ausgestorbene Schwestergruppe der Neandertaler, die 2010 im Altai-Gebirge entdeckt worden war.
Dass gleich drei menschliche Spezies Träger mehrerer Kopien des Gens waren, deute den Forschenden zufolge darauf hin, dass es auch von einem gemeinsamen Vorfahren geteilt wurde. Urmenschen könnten also schon vor 800.000 Jahren mehr als eine Kopie von AMY1 besessen haben.
Zufall oder direkte genetische Anpassung?
Martin Fieder, Anthropologe und Verhaltensbiologe an der Universität Wien, hält die Erkenntnisse für "überaus interessant". Fraglich bleibe aber, "ob die genetische Adaption direkt auf den verstärkten Verzehr von Kohlenhydraten zurückzuführen ist, oder ob sie ein zufälliges Beiprodukt anderer genetischer Prozesse ist, die wir gar nicht kennen". Denkbar sei, dass "eben eine zufällige Mutation dazu geführt hat, dass unsere frühe Vorfahren Stärke besser verdauen konnten".
Besonders stark habe sich das Stärke-Gen im Menschen in den vergangenen 4.000 Jahren ausgebreitet, weiß Fieder. "Weil wir damals begonnen haben, gezielt Ackerbau zu betreiben. Die Verfügbarkeit des Gens in größerer Zahl war für den Menschen nutzbringend, weil er mehr Kohlenhydrate zu sich genommen hat – und hat sich durchgesetzt."
Die Studie liefere "überzeugende Beweise" dafür, wie sich der Organismus auf die Umwandlung schwer verdaulicher Stärke in leicht zugänglichen Zucker eingestellt hat, erklärt auch Taylor Hermes, Anthropologe an der Universität von Arkansas und nicht an der Forschung beteiligt, gegenüber CNN. Zudem untermauere sie die Theorie, dass Kohlenhydrate und nicht Proteine Motor der komplexen menschlichen Hirnentwicklung waren.
Zentrale Forschungen, "verlockende Hinweise"
Beeindruckt zeigt sich im CNN-Gespräch Christina Warinner, Anthropologin an der Harvard University. Die Studie liefere in Summe "enthüllt verlockende Hinweise auf die lange Liebesaffäre der Menschheit mit Stärke".
Die Analyse alter menschlicher Genome sei jedenfalls ein wichtiges Werkzeug zur Erforschung der Menschheitsgeschichte, betont Experte Fieder: "Solche Forschungen sind ganz zentral, weil sie unglaublich spannende Ergebnisse zur Entstehung von Krankheiten, unserem Verhalten und Anpassungen an Umwelteinflüsse liefern."
Nicht umsonst sei der Medizin-Nobelpreis 2022 an Svante Pääbo gegangen, "jenen Paläogenetiker, der das Erbgut längst ausgestorbener Frühmenschen rekonstruierte".
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