Abstinenz ist nicht mehr alles

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Ein neu zugelassenes Medikament soll das Weitertrinken weniger attraktiv machen.

Das Gläschen Wein, Bier oder Prosecco in Ehren ist ebenso ein fixer Bestandteil unserer Gesellschaft wie der selbstschädigende Umgang mit Alkohol. Er kann im schlimmsten Fall zur Sucht werden. In Österreich betrifft übermäßiger, gesundheitsschädigender bis krankhafter Alkoholkonsum rund eine Million Menschen. Über Jahrzehnte galt Abstinenz als erklärtes Behandlungsziel. In den letzten Jahren kam es aber zu einem Paradigmenwechsel: „Abstinenz ist nicht mehr das absolute Ziel, weil sie für viele Betroffene nicht erreichbar ist“, sagt Univ.-Prof. Michael Musalek, Leiter der Wiener Suchtklinik „Anton Proksch Institut“ (API) und Präsident des Vereins „Alkohol ohne Schatten“. Oberstes Therapieziel sei deshalb „ein autonomes, lust- und freudvolles Leben. Jede Annäherung ist als Erfolg zu sehen.“

Ein neues Medikament mit dem Wirkstoff Nalmefen, das im Dezember 2012 in der EU zugelassen wurde, könnte in bestimmten Fällen unterstützend wirken. Musalek, der mit dem API an mehreren doppelblinden Studien für dieses Medikament teilnahm, erklärt dessen völlig neuen Wirkmechanismus so: „Das Weitertrinken wird dadurch weniger attraktiv, denn Alkohol wirkt auf die Ausschüttung des Botenstoffs Dopamin. Nalmefen unterbricht diesen Mechanismus.“ Einsatzgebiete sieht er bei ganz frühen Stadien ebenso wie bei problematischem Alkoholkonsum. Gleichzeitig warnt er vor zu viel Euphorie: „Die Einnahme reduziert die Trinkmenge aber nicht von Haus aus. Das Medikament muss unbedingt in einen Gesamtplan eingebaut werden.“ Vereinzelt werde es in Ambulanzen bereits angewendet, bis jetzt ist jedoch die Erstattung durch die Sozialversicherung noch nicht geregelt.

Individuelle Therapien

Je nach Stadium setzt man heute auf personalisierte Therapien. „Alkohol ist ein fixer Teil unserer Gesellschaft. Deshalb werden wir alle lernen müssen, genussvoll damit umzugehen.“ Das gehe weit über die landläufige Definition von Genuss hinaus. „Er schließt Erlebnisfähigkeit und Kontrolle über das eigene Trinkverhalten ein. Jeder Mensch muss individuell erlernen, wie er damit umgeht.“

Das gilt auch für den Konsum jenseits der Gefährdungsgrenzen. „Wir haben es häufig mit Patienten zu tun, bei denen Alkohol an erster Stelle der wichtigsten Dinge in ihrem Leben steht. Für viele ist die Hürde, ohne weiterleben zu müssen wenig attraktiv.“ Wenn die Bedeutung des Alkohols nach hinten rückt, weil andere Freude-Angebote mehr Bedeutung bekommen, sei viel gelungen. „Wenn so jemand weniger trinkt, verringert das auch die Gefahr von Folgeerkrankungen wie Organ- oder Nervenschäden.“ Bei starker körperlicher und psychischer Abhängigkeit sowie Entzugssyndrom bleibt Abstinenz freilich unverzichtbar.

Alkohol ohne Schatten“ setzt verstärkt auf Enttabuisierung, Prävention bei Jugendlichen – und Früherkennung. Hier spielen die niedergelassenen (Haus-)Ärzte eine wichtige Rolle. „Wir kennen oft nicht nur die Patienten selbst, sondern das gesamte Familienumfeld über Jahre“, sagt Barbara Degn, Allgemeinmedizinerin in Wien-Floridsdorf. Statistisch hätten bis zu 15 Prozent der Patienten praktischer Ärzte ein Problem mit Alkoholmissbrauch. Allerdings fehlen Rahmenbedingungen, beklagt Johannes Steinhart, Vizepräsident der Ärztekammer. „Für eine umfassende und einfühlsame Betreuung braucht es Zeit, damit ein Vertrauensverhältnis entstehen kann.“ Dieser Faktor werde derzeit nicht so honoriert, wie es die komplexe Behandlung Alkoholkranker erfordern würde. Er regt Umstrukturierungen vorhandenen Gelds bei den großteils wieder positiv bilanzierenden Krankenkassen an.

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