Ein vom britischen Premier Boris Johnson angedrohter No-Deal-Brexit wäre laut Experten ein weiterer Schlag für die von der Corona-Rezession stark gerüttelte britische Wirtschaft. „Dass No-Deal ein gutes Ergebnis wäre, stimmt nicht,“ sagt Alan Winters, Wirtschaftsprofessor an der Universität Sussex, dem KURIER. „Es wäre nicht unbedingt katastrophal“, fährt er fort. Aber es bedeute mehr Unsicherheit und höhere Kosten als ein Freihandelsabkommen, wenn das Land mit Jahresende den EU-Binnenmarkt und die Zollunion verlässt.
"Wirtschaftlich negativ"
Der Handel mit der EU würde dann nach Regeln der Welthandelsorganisation ablaufen. „Das ist mittel- bis langfristig wirtschaftlich negativ, weil es Zölle und andere Hemmnisse mit dem größten Handelspartner schafft,“ erklärt Jonathan Portes, Wirtschaftsprofessor am King’s College London.
2019 gingen 43 Prozent aller britischen Exporte, und damit 300 Milliarden Pfund (330 Mrd. Euro), in die EU. 372 Milliarden Pfund (410 Milliarden Euro), und somit 51 Prozent aller Importe, kamen von dort.
Höhere Rezession
No-Deal würde längerfristig einen „wesentlich größeren wirtschaftlichen Schock als COVID-19“ bedeuten, warnt auch Thomas Sampson von der London School of Economics. Die damalige britische Regierung prognostizierte Ende 2018, dass die Wirtschaftsleistung über 15 Jahre um 7,6 Prozent sinken würde, statt 4,9 Prozent mit einem Handelsabkommen. Sampson rechnet, dass das in Gegenwartswerten ausgedrückt eine Reduktion von 5,7 statt 3,7 Prozent bedeuten würde, während die Coronakrise allein schon einen 2,1-prozentigen Rückgang mit sich bringt.
Für Firmen "entsetzlich"
Für Konsumenten würde ein harter Brexit Preisanstiege und Druck auf Löhne bedeuten. Für Firmen wäre er zusätzlich zu Corona „entsetzlich“, sagte kürzlich der Verband der Britischen Industrie CBI. Denn dann wären Zölle auf 90 Prozent der Warenexporte in die EU, oder bis zu 6 Milliarden Pfund (6,6 Mrd. Euro) im Jahr zu erwarten. Die Kosten der zusätzlichen Bürokratie für britische Unternehmen schätzt die Steuerbehörde auf jährlich 15 Mrd. Pfund (16,5 Mrd. Euro).
Chaos an den Grenzen
Auch Chaos an Grenzen und Versorgungsengpässe drohen. Britische Logistikfirmen warnen vor „erheblichen Störungen,“ weil Zoll-Abfertigungszentren und IT-Systeme nicht bereit sein werden. Die Regierung will noch schnell 29 Lkw-Parkplätze nahe Häfen wie Dover bauen, um Fracht ohne die nötigen Papiere zwischenlagern zu können.
Für Ärmere "schwerwiegende Folgen"
Die Landwirtschaft wäre besonders hart betroffen, da zwei Drittel der landwirtschaftlichen Waren in die EU exportiert werden. Die 40 Prozent EU-Zölle auf Rind- und Lammfleisch könnten britische Firmen aus wichtigen Märkten ausschließen. Der Think Tank „The U.K. in a Changing Europe“ erwartet auch einen „deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise“ in Großbritannien: 7,3 Prozent für Fleischprodukte, mit „schwerwiegenderen Folgen für ärmere Haushalte.“
Zölle auf Autos
Die Auto-Industrie sieht Sampson wegen Zöllen von 10 Prozent und ihrer Anfälligkeit für Lieferverzögerungen auch „schlecht abschneiden.“ Ungefähr 80 Prozent der im Land produzierten Autos wer den exportiert .
Erfolg "trotz Brexit"
Dem Dienstleistungssektor, der ungefähr 80 Prozent der britischen Wirtschaftskraft ausmacht, droht ohne Abkommen „der Verlust des EU-Marktzugangs,“ sagt Sampson. Und im Finanzsektor haben Firmen bereits EU-Niederlassungen eröffnet für den No-Deal-Fall, aber weitere Jobs und Kapital könnten auf den Kontinent abfließen.
Kann Großbritannien trotz alldem, wie Johnson sagt, gedeihen? „Ja, aber das ist wahrscheinlich trotz, nicht wegen Brexit,“ sagt Portes.
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