Wieviel Churchill steckt in Boris Johnson? Der Premier und sein Idol
Mit der vornehmem Verwandtschaft hat es sich Boris leider schon verscherzt. Mit Winston Churchill habe der Premier wohl wirklich gar nichts zu tun, meinte Nicholas Soames, einst britischer Vize-Verteidigungsminister, merklich spöttisch gegenüber der Times.
"Lügen über die EU"
Der 73-jährige Adelige ist wohl jemand, auf dessen Urteil man in diesen Fall vertrauen darf, immerhin ist Soames der Enkel Churchills. Der jedenfalls habe ein ganzes politisches Leben lang aus seinen Erfahrungen geschöpft. Johnsons Erfahrungen bestünden daraus, „eine Menge Lügen über die Europäische Union in Brüssel erzählt zu haben“.
Soames Verbitterung über den Premier ist verständlich. Schließlich hat ihn Johnson im Vorjahr aus dem Parlament geworfen, weil er sich seinem Brexit-Kurs widersetzt hatte. Sein Großvater jedenfalls, machte der geschasste Konservative seinem Ärger Luft, hätte kein Verständnis dafür gehabt, der EU den Rücken zu kehren.
Doch da irrt der Enkel. Churchill hatte zwar in einer Rede nach dem Zweiten Weltkrieg dazu aufgerufen, die „Vereinigte Staaten von Europa“ zu gründen, doch sein Großbritannien sah der Premier nie als Teil davon: „Wir stehen zu Europa, aber gehören nicht dazu.“
Churchill Siegesansprache in der BBC
Was die Beziehungen zu Europa und dem Rest der Welt betrifft, steuert Johnson durchaus auf Churchills Kurs. Wie Großbritanniens wohl legendärster Regierungschef sieht er Großbritannien als international agierende Seefahrer-Nation, die vor allem mit den USA gute Beziehungen pflegen sollte. Gerne spricht Johnson vom „global Britain“.
"Held meiner Kindheit"
Allerdings hatte Churchill eine, wenn auch zerfallende, Weltmacht zum Sieg über Hitlerdeutschland gesteuert. Johnson dagegen muss zusehen, dass ihm sein kleines Großbritannien nicht auseinanderbricht. Den „Helden meiner Kindheit“ nennt Johnson Churchill gerne und lässt sich Vergleiche mit ihm nur zu gerne gefallen.
Kriegspremier, Krisenpremier
Und die gönnt ihm vor allem die konservative, EU-skeptische britische Presse reichlich, seit er ihnen den Wunsch des EU-Austritts erfüllt. Ein „Figur von Churchill-Format“ sei der Premier, schwärmte etwa der Telegraph, jetzt sei es Zeit für Johnson, den Churchill in sich hervorzuholen. Und der Express holte sich sogar einen Historiker, der bestätigen durfte, dass die beiden „beeindruckende Ähnlichkeiten“ hätten und dass Johnson bewiesen habe, dass er von Churchill lernen könne: „Er hat gezeigt, dass es damals wie heute in einer außergewöhnlichen Situation eine Regierung braucht, die nur ein einziges Ziel verfolgt.“
Bomben und alte Schlager
Was für Churchill also der Krieg gegen ein scheinbar übermächtiges Nazi-Deutschland war, ist für Johnson zuerst der Brexit und dann die aktuelle Corona-Krise. Vergleiche mit dem Zweiten Weltkrieg – 75 Jahre Kriegsende werden in diesen Tagen begangen – werden in Österreich oder Deutschland bestenfalls vorsichtig und mit ganz vielen Aber gezogen, in Großbritannien kennt man diesbezüglich seit jeher keine Zurückhaltung.
Die Queen selbst erinnerte sich in ihrer Ansprache vor wenigen Tagen an ihre Jugend in den Kriegstagen und appellierte offen an die nostalgischen Gefühle ihrer Landsleute.
„We’ll meet again“ („Wir treffen uns wieder“) – kaum hatte die Monarchin in diesen Satz ihre Hoffnung auf ein normales Leben nach Corona gepackt, da trällerte die ganze Insel den legendären Schlager aus den Tagen der deutschen Bombenangriffe auf Großbritannien. Der Song, berühmt gemacht von Vera Lynn, schoss in den Hitparaden sofort auf Nummer eins.
Aus Siegern wurden Verlierer
Auch die Kommentatoren der großen Medien bedienen sich derzeit wieder großzügig beim Zweiten Weltkrieg und dem Sieg über Hitlerdeutschland. Der V-Day („Tag des Sieges“) am 8. Mai ist für die Briten uneingeschränkt mit Glanz und Gloria verknüpft, also genau dem Gefühl, das in den Jahren und Jahrzehnten danach sehr oft verloren ging. Den Krieg hatte man zwar gewonnen, doch ein paar Jahre später, während das besiegte Deutschland im Wirtschaftswunder badete, klebte man auf der Insel immer noch Lebensmittelmarken.
Aus Siegern wurden Verlierer
Die Sieger sahen auf einmal wie Verlierer aus. „Jetzt müssen wir die Lektionen unserer Kriegsgeneration lernen“ meinte etwa die Times und zog gleich den direkten Vergleich mit der Corona-Krise. Damals wie heute stehe man vor einem grundlegenden Umbruch – und den müsse man positiv und mit dem Mut jener gestalten, die damals für ihr Land gekämpft hätten, tönt es da pathetisch aus jeder Zeile.
Zentralfigur Churchill
Der englische Mythos von der heldenhaften Kriegsgeneration hat eine Zentralfigur, den längst zur Ikone – inklusive Zigarre – erstarrten Winston Churchill. Eine seiner dicken Havannas habe der sich am Siegestag noch rasch auf dem Weg nach Westminster gekauft, schwelgt ein Kommentator in Churchill-Anekdoten. Ausgerechnet an diesem 8. Mai 1945 waren sie dem passionierten Raucher und Whisky-Trinker ausgegangen.
Churchill-Anekdoten
Anekdoten, die einer allesamt kennt: Boris Johnson. Der Premier hat ein Buch über seinen verehrten Vorgänger geschrieben. „Der Churchill-Faktor“ ist keine konventionelle politische Biografie, sondern eine – wie ein Kritiker schrieb – „Liebeserklärung“ an Churchill, „mehr Abenteuerroman als Geschichtsschreibung“. Unübersehbar, dass Johnson hinter dem „Churchill-Faktor“ immer auch den „Johnson-Faktor“ sucht, die Ähnlichkeiten des Vorgängers mit sich und der eigenen politischen Biografie.
Den Versager abgelöst
Als Churchill in die Downing Street einzog war sein Vorgänger gerade mit seiner Politik komplett in der Sackgasse gelandet. Neville Chamberlain hatte über Jahre versucht, Hitler friedlich in die Schranken zu weisen.
Jetzt war Polen okkupiert, und die deutschen Panzer überrollten Frankreich. Churchill war lange politischer Außenseiter gewesen, ein Exzentriker, der vor allem mit seinen ungewöhnlichen Gewohnheiten und seinem Sprachwitz auf sich aufmerksam machte. Genau so sieht sich auch Johnson, der ja den genialen Clown, der brillante Reden hält und sich für keinen Spaß zu schade ist, schon in seinen Tagen als Londoner Bürgermeister kultiviert hatte. Auch Johnsons Vorgängerin Theresa May war mit ihrer Brexit-Politik in der Sackgasse gelandet. Johnson, an dieser Irrfahrt nicht ganz unschuldig, ließ sich bewusst lange bitten, bis er quasi den Ruf des Vaterlands in der Not hörte.
Ob Johnson in dieser Not so gute Figur macht wie sein Idol, ist schon jetzt umstritten. Churchill hatte Hitler von Anfang an abgelehnt, auch als andere ihn noch hofierten. Johnson machte sich erst per Schwenk in letzter Minute zum Vorkämpfer für den Brexit und hatte auch in der Corona-Krise seine Mühe, zu einer Linie zu finden. Entsprechend skeptisch sieht der Guardian alle Vergleiche mit dem großen Vorgänger: „Johnson als Churchill? Da wiederholt sich tragische Geschichte bestenfalls als eine unlustige Farce.“
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