Versicherungschef: "Zunehmende Zweifel an staatlichen Vorsorgesystemen"
Philipp Gmür, jahrelanger Konzernchef der Schweizer Helvetia Versicherung, gab anlässlich seines Wien-Besuchs dem KURIER ein Exklusiv-Interview, unter anderem über die Lage der Wirtschaft in seinem Land.
KURIER: Wie geht es dem Finanzplatz Schweiz nach dem Fiasko um die Credit Suisse?
Philipp Gmür: Für den Finanzplatz ist es eine sehr anspruchsvolle Situation, wie man mit einer globalen Bank umgeht. Aber ich denke, die Weichen wurden richtig gestellt.
Wie sehr hat Ihr Unternehmen diese Causa betroffen?
Wir sind praktisch nicht betroffen. Wir haben ein Investment in Credit Suisse-Aktien sowie herkömmliche Anleihen in einem sehr tiefen zweistelligen Millionenbetrag. Bei einer Bilanz von 60 Milliarden Franken. Wir haben aber keine dieser Anleihen, die nun ausgefallen sind.
Besitzer der betroffenen Anleihen wollen klagen. Können Sie das nachvollziehen?
Anleihen und Aktien sind immer mit Risiken behaftet. Und diese Anleihe mit 9 Prozent Rendite impliziert schon ein gewisses Risiko. Wichtig ist mir: Bilanziell sind Versicherungen anders aufgestellt als die Banken. Wir haben in unseren Bilanzen Verpflichtungen auf mehrere Jahrzehnte. Wir sind auch sehr stark kapitalisiert. Bei Helvetia haben wir mehr als das Dreifache des nötigen Kapitals, das man gemäß Schweizer Solvenzvorschriften bräuchte.
Wieso ist eigentlich in der Schweiz die Inflation mit rund 3 Prozent so tief?
Ich denke, es hängt im Wesentlichen mit unserer nach wie vor sehr soliden Wirtschaftslage zusammen. Wir haben eine starke Binnenwirtschaft und eine starke Währung. Und wir haben aus der Not eine Tugend gemacht. Gerade weil der Franken so stark ist, musste die Exportindustrie in den letzten 15, 20 Jahren viele Prozesse extrem verschlanken, weil sich die Produkte 15 bis 20 Prozent verteuert haben, insbesondere zum Euro. Und das hat dazu beigetragen, dass die Wirtschaft auf Effizienz und Effektivität getrimmt wurde. In der Finanzindustrie war der Kostendruck bisher nicht so groß. Wir rechnen damit, dass wir da noch mehr unter Druck geraten und deshalb auch unsere Bemühungen, dass die Abläufe möglichst schlank, aber eben möglichst kundenfreundlich sind.
Das klingt nach Quadratur des Kreises.
Ja, aber das ist notwendig. Die Kunden heute haben höhere Ansprüche. Und sie können mehr und mehr Preise vergleichen. Und das heißt, am Schluss will die Kundin, der Kunde das beste Angebot. Es muss nicht der billigste Preis sein, aber der beste Preis. Und gleichzeitig haben wir immer mehr regulatorische Vorgaben in allen Ländern, die uns dazu zwingen, den Kunden noch ein zusätzliches Formular unterschreiben zu lassen und noch irgendwo einer Einwilligung zu einer Klausel zuzustimmen. Wir unternehmen sehr viele Anstrengungen, diese Komplexität zu reduzieren, was schwierig ist.
Auch Online-Versicherungsangebote wie Ihr neues Produkt Smile sind dahingehend eine Gratwanderung.
Wir sehen das eher als Weiterentwicklung im Rahmen der Betreuung der Kunden gemäß ihren spezifischen Bedürfnissen. Und die Kunden sind jetzt in Anführungsstrichen reif genug, sich teils ohne zusätzliche Beratung eine Versicherungsleistung einzukaufen. Und wir haben bisher keine Probleme gehabt mit den Regulatoren diesbezüglich.
Was ist bei Smile anders?
Smile ist in der Schweiz die führende Online-Versicherung, auch weil es immer wieder gelungen ist, die Angebote konsistent dem Zeitgeist anzupassen. Man kann heute beispielsweise monatlich kündigen. Die wenigsten Kunden machen von dem Gebrauch, aber die Möglichkeit kündigen zu können, ist attraktiv. Außerdem spricht Smile Kundinnen und Kunden anders an. Dazu gehört eine Kommunikation in Du-Form und der Auftritt auf Kanälen wie TikTok. Und den Service, den man im Schadenfall erhält, unterscheidet sich überhaupt nicht von dem Service, der jemand kriegt, der beim Agenten abschließt. Die Erwartungshaltung des Kunden ist oftmals noch eine andere. Die Zufriedenheit ist im Schadenfall bei Smile daher sogar oft etwas höher, denn der Kunde wird positiv überrascht.
Sind bei Smile die Prämien geringer?
Smile soll kein Billigangebot sein, sondern wird als alternativer, profitabler Anbieter positioniert. Der Tarif ist nicht immer der gleiche, sondern hängt auch sehr stark von der Zielgruppe ab. In Segmenten mit einer guten Schadengeschichte sind die Prämien entsprechend attraktiv. Ebenso gibt es Segmente mit eher höheren Prämien. Dies wird konsequent im Vertrieb umgesetzt. Zum Beispiel bringt es bei Vergleichsplattformen nichts, wenn man nicht unter den Top 3-Anbietern ist. Und vor allem passen wir die Tarife in viel kürzeren Intervallen an.
Was wollen Sie in Österreich anbieten?
Es werden eher beratungsärmere Produkte sein, wir starten mit Haushaltsversicherungen. In der Schweiz haben wir auch eine ganz einfache Risikolebensversicherung bis zu einer Summe von 100.000 Franken. Daneben skalieren wir die digitale Experience von Smile. Dazu gehört beispielsweise auch die erfolgreiche Smile App und das dazugehörende Freemium-Modell. Wir möchten damit bis Ende 2025 zum führenden Onlineanbieter in Österreich werden. Wir sehen hier, bezüglich Digitalisierung einen Markt, der noch nicht gleich weit entwickelt ist wie andere in Europa.
Hat es Sie nie gereizt, nach Osteuropa zu expandieren?
Doch. Ich selber habe mich immer wieder mit der Frage beschäftigt, ob wir Wien nicht als Brückenkopf nutzen könnten für Osteuropa. Und warum haben wir das nicht gemacht? Einerseits haben wir gesehen, dass wir in unseren bestehenden Märkten noch sehr viel Potenzial haben und auch die finanzielle Kraft darauf fokussieren sollten. Eine Expansion in neue Länder braucht einen langen Atem. Dazu haben wir in Osteuropa ganz unterschiedliche Kulturen und Jurisdiktionen. Wir sind zum Schluss gekommen, dass wir die diesbezüglichen Märkte einfach zu wenig gut kennen, um erfolgreich agieren zu können.
Haben Sie überhaupt noch Potenzial in den bestehenden Ländern?
Ja. Natürlich ist die Durchdringungsrate in Westeuropa höher als in Osteuropa. Aber die Kaufkraft ist eine andere und das Bedürfnis nach Sicherheit nimmt nach wie vor zu.
Was meinen Sie damit?
Erstens haben wir aufgrund der demografischen Veränderungen und dem zunehmenden Zweifel an den staatlichen Vorsorgesystemen eine große Nachfrage bei Privatkunden nach privater Vorsorge. Zweitens haben wir insbesondere auch in unseren südeuropäischen Märkten eine Durchdringung, die noch nicht so hoch ist wie in der DACH-Region. Wir haben dort sehr attraktives Wachstum.
Wie stark betreffen Sie die steigenden Zinsen?
Steigende Zinsen sind für einen Versicherer grundsätzlich positiv. Sie sind für die Lebensversicherungen attraktiv, weil es bei den Anleihen im Kundenstock attraktivere Renditen gibt. Natürlich müssen wir die Inflation managen und die Zinsen sollten nicht zu schnell und zu steil steigen. Aber es ist nicht grundsätzlich ein Problem.
Sind Naturkatastrophen und die zu deckenden Schäden ein größer werdendes Problem?
Wir verfolgen das sehr eng. Der Klimawandel ist ein zusätzlicher Treiber von Naturkatastrophen. Beispielsweise nehmen die Wirbelstürme eher zu oder der Meeresspiegel steigt. Es ist allerdings schwierig genau zu quantifizieren, wie viel der Schäden auf den Klimawandel zurückgehen und wie viel auf andere Effekte.
Was sind andere Effekte?
Wir sehen eine Akkumulation von Werten in kritischen Gegenden. Unsere Vorfahren hätten an gewissen Flussmündungen oder in einem Lawinenkegel niemals ein Haus gebaut. Dies geschieht aber wegen der Urbanisierung und stärkeren Besiedlung unseres Alpenraums. Oder an den US-Küsten, wo es eine derartige Steigerung von Werten und eine Massierung von Häusern, Fabriken, Infrastruktur und so weiter gibt, die einem Wirbelsturm dann zum Opfer fallen könnten. Das steigende Schadenausmaß hat also nicht nur mit dem Klimawandel zu tun.
Wie gehen Sie mit diesen Naturkatastrophen um?
Unsere Branche hat zusammen mit der öffentlichen Hand eine lange Tradition von Prävention. Brandschutz und Unfallverhütung sind heute eine Selbstverständlichkeit. Dies sollte auch für das Verhindern oder Mitigieren von Schäden infolge von ausserordentlichen Naturereignissen gelten. Beispiel Hochwasser: Wo baut man sinnvollerweise noch und wo muss die öffentliche Hand noch mehr in den Hochwasserschutz investieren? Und dann ist da noch ein weiterer Schritt möglich, was den CO2-Ausstoß betrifft. Wir wollen unseren Beitrag leisten, etwa für Elektroauto-Besitzer. Oder für Leute, die ihre Heizungen umstellen auf Photovoltaik.
Wer soll für die steigenden Schäden aufkommen?
In der Schweiz oder in Spanien gibt es einen sogenannten Elementarschadenpool. Das ist eine sehr gut etablierte Lösung. In Österreich haben wir seit etwa 20 Jahren eine Situation, die eher blockiert ist. Und in Deutschland ist bei den letzten Fluten folgende etwas unbefriedigende Situation eingetreten: Ungefähr die Hälfte der Betroffenen hatte eine private Gebäudeversicherung, die die Schäden deckte, und die andere Hälfte hatte keine Versicherung abgeschlossen. Und da bezahlte der Staat, wobei die Betroffenen teils sogar noch mehr bekamen als jene, die selbst mit einer Versicherung vorgesorgt hatten! Das erzeugt gesellschaftlichen Druck.
Wie funktioniert dieer Pool?
Er wird vollständig privat finanziert. Von Jedem Versicherungskunden, der eine Gebäude- oder Haushaltsversicherung abschließt, fließt ein Teil der Prämie in diesen Pool. Das zahlen auch die Bewohner in kaum betroffenen Städten wie Genf oder Zürich ein. Daran scheitert es in Österreich. Es handelt sich um ein Solidarprinzip. In jedem Land gibt es Gegenden, die viel exponierter sind als andere. Für diese braucht es gesetzliche Lösungen zwischen der Wirtschaft, der Versicherungsindustrie und dem Staat. Ähnliche Modelle braucht es künftig für Schäden infolge von Cyberangriffen oder Pandemien. Bevor es zu spät ist. Wir riskieren ein Marktversagen. Es gibt eine große Nachfrage nach Deckungen. Aber es gibt kein Angebot mehr, weil die Versicherungsindustrie schlicht nicht in der Lage ist, mangels Risikoausgleich diese große Nachfrage zu decken.
Erdbeben sind auch versichert?
In der Schweiz ist es bisher nicht gelungen, diese Schäden in den Elementarschadenpool zu inkludieren. Es gibt wenige Private, die haben das Risiko versichert. Und der größte Teil verzichtet darauf in der Meinung, wenn so etwas passiert, dann hilft ohnehin der Staat. Ich sehe es als unsere Aufgabe als Versicherer, auf Gefahren aufmerksam zu machen und auch an die Selbstverantwortung zu appellieren und damit auch an die politischen Verantwortlichen, Rahmenbedingungen zu setzen, die uns ermöglichen, eine auf Solidarität beruhende Erdbebendeckung zu machen.
Versichern Sie noch jeden Kunden, der in exponierten Lagen ansiedelt?
Wir haben ganz wenige Gegenden, wo wir das nicht machen. Aber dank der Poollösung finden alle Kunden irgendwo Unterschlupf. In diesen Pool bezahlen alle Versicherer gemäß ihrem Marktanteil ein. Das hilft, auch exponierte Lage abzudecken.
Der Konzern
Der Gewinn der Helvetia stieg im Vorjahr um 18,2 Prozent auf 615,4 Mio. Franken (618 Mio. Euro), deutlich mehr als von Analysten erwartet. Die Dividende wurde um 40 Rappen auf 5,90 Franken erhöht
Österreich
Das verrechnete Prämienvolumen stieg in Österreich um 7 Prozent auf 582,1 Mio. Euro. Davon kommen 394,5 Mio. aus dem Bereich Schaden/Unfall
Philipp Gmür (59)
ist seit 30 Jahren für die Helvetia tätig, seit sieben Jahren als Vorstandschef. Ende September tritt er von sich aus zurück
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