Sozialexperte Marin: "Recht auf Faulheit – aber auf eigene Kosten"
Im Gespräch mit dem KURIER erläutert Sozial- und Pensionsexperte Bernd Marin, wo die größten Potenziale zur Milderung des Arbeitskräftemangels liegen, warum die „Frühpensionitis“ immer noch Volkssport ist in Österreich, welche Bedingungen gelten müssen, damit Menschen nach ihrem Pensionsantritt weiter arbeiten und warum Wien so viel jünger ist als das Burgenland.
KURIER: Herr Professor, Sie werden heuer 75 und arbeiten immer noch. Warum? Was macht so viel Spaß?
Bernd Marin: Nichts tun kann ich nicht. Wer was macht, lernt was und bleibt lebendig. Wer nix mehr lernt, ist eh schon untot.
Wie bringt man mehr Menschen dazu, in der Pension weiter zu arbeiten? Wie das die Regierung möchte...
Wer entfremdete, leidige Arbeit hat, will natürlich so rasch wie möglich weg. Das kann man gut verstehen. Doch warum sollte jemand sinnstiftendes Tun lassen? Nur weil es bezahlt wird – oder gar freut und nützt? Menschen erfinden sich auch neue Arbeit. Als mein Vater mit dem Erwerb aufhörte, begann er mit Anfang 80, Liebesromane zu schreiben – zum Missvergnügen unserer Mutter. Ich halte Vorträge und schreibe und sorge. Das macht froh.
Für „normale“ Arbeiter und Angestellte gefragt: Kann da ein kleiner finanzieller Anreiz, wie der Entfall des Pensionsbeitrags oder ein etwas höherer Bonus, helfen?
Das sollte man nicht unterschätzen, auch wenn es nicht entscheidend ist. Außer für Reiche spielen materielle Motive für die meisten Menschen im Alter durchaus eine Rolle. Es scheint absurd, Abertausende Euro wegzusteuern für ein paar tausend Euro Zuverdienst. Wie oft wurde versprochen, dass man als Pensionist nicht doppelt oder dreimal Krankenkasse zahlt, als Pensionist, als Berufstätiger und für die mitversicherte Frau?
Über Jahrzehnte wurde in Österreich sehr gut mit der „Krankheit“ Frühpensionitis gelebt, jetzt sollen möglichst viele möglichst länger arbeiten. Ist das Bewusstsein dafür überhaupt vorhanden?
Noch kaum. In Österreich ist Frühausstieg ein Volkssport. Immer noch sind 90 Prozent vor 65 und 70 Prozent vor dem gesetzlichen Pensionsalter 60/65 im Vorruhestand. Die Regel wurde zur Ausnahme, die Ausnahme zur Regel. Das gibt es in keinem anderen mir bekannten Land der Welt.
Man müsste also den Fokus auf Ältere lenken, die noch im Berufsleben stehen, statt auf jene, die bereits in Pension sind. Das Potenzial ist doch ungleich höher ...
Völlig richtig. Ein Beispiel: Anträge auf Invaliditätspension werden heute mehrheitlich abgelehnt. Trotzdem kommen fast alle der überwiegend abgewiesenen Antragsteller nie wieder in den Beruf zurück. Wer innerlich entschieden hat, ich kann oder will nicht mehr, ist weg für immer. Gegen innere Kündigung kann die Politik Kopf stehen. Man darf also die Menschen nicht zu spät unterstützen und sie so demoralisieren. Etwa blecherne Handshakes als goldene verkaufen. Oder Mitarbeiter misshandeln, von glücklosem Onboarding über demotivierende Personalführung bis zu fehlender oder würdeloser Verabschiedung.
Wo schlummert das größte Potenzial für den Arbeitsmarkt?
Es gibt vergleichbar viele pensionsnahe Jahrgänge 50 bis 65 wie Pensionisten im Alter 65+ (1,78 Mio). Über eine dreiviertel Million ist im Erwerbsalter in Frühpension. 1,9 Millionen Babyboomer (Jahrgang 1956–1969) gehen bis 2034 in den Ruhestand. Innerhalb einer Generation haben wir statt damals rund 100.000 nun knapp 1,3 Millionen Teilzeitbeschäftigte. Das sind überwiegend Frauen, zwei Drittel ohne Betreuungspflichten, die Vollzeit arbeiten könnten und oft auch wollten. Aber Hunderttausende stecken unfreiwillig in Teilzeit, mangels Vollzeitjobs und Kinderbetreuung.
Wie sehen Sie in diesem Lichte die jetzige Teilzeit-Debatte? Also mehr Frauen als heute zur Aufnahme von Vollzeitarbeit zu bewegen ...
Die Bevorzugung von Teilzeit muss aufhören, wenn wir Wohlstand und Sozialstaat nicht gefährden und Fachkräftemangel, Pflegenotstand und massive Frauenarmut im Ruhestand vermeiden wollen. Gerade bei der heutigen Generation bestens ausgebildeter junger Frauen jemals. Die Hälfte stolpert in die Teilzeitfalle und Altersarmut. Selbst wenn sie dasselbe verdienen würden wie Männer, was sie leider bei Weitem nicht tun, fallen sie – außer als Ärztin und Apothekerin – bei Teilzeit unter die Armutsgrenze.
Was wäre Ihr Vorschlag? Höhere Steuerfreigrenzen, geringere Sozialabgaben?
Im Gegensatz zum deutschen Altkanzler Schröder muss es in freien Gesellschaften sehr wohl ein „Recht auf Faulheit“ geben – aber auf eigene Kosten. Wissenschafter sagen lieber „Präferenz für Freizeit“. Sie ist legitim. Aber der Staat darf nicht bei Steuern und Abgaben Teilzeit gegen Vollzeit subventionieren und dadurch gemeinwohlschwächende höchstpersönliche Vorlieben einseitig fördern.
Themenwechsel: Man weiß doch schon ewig, dass jetzt die geburtenstarken Jahrgänge in Pension gehen und zu wenig Junge nachkommen. Wurde das nicht komplett verschlafen?
Leider ja. Aber man kann da – außer durch Zuzug – wenig tun, Gebärpolitik funktioniert nicht einmal bei den Mullahs im Iran. Schwarz-Blau I wollte „Null Zuwanderung“ und „Kinder statt Inder“. Am liebsten wohl wieder Mutterkreuze. Heraus kam die höchste Zuwanderung 2004 und die niedrigste Geburtenrate 1999 bis 2013. Da gab es Jahrgänge ab 75.000 Geburten gegenüber den Babyboomern mit 135.000. Doch wie können 75.000 Enkerln 135.000 Großeltern durchfüttern?
Wir bekommen also bald wieder eine Pensionsdebatte?
Ja und Nein. Es gibt Sperrklinken-Effekte, gewisse Themen sind tot wie Kernkraft, aber nur bei uns – und erst nach Tschernobyl. Keine mittlere Volkspartei traut sich über Arbeitsmarkt- und Pensionsreformen oder den Pflegeregress. Wer außer den Neos steht hier für Reformen?
Aber wird nicht das Pensionsloch irgendwann so groß, dass jemand die Notbremse ziehen wird müssen?
Ja, doch erst in größter Not. Schon heute kann aus den Pensionsbeiträgen ein Drittel der Leistungen nicht mehr bedeckt werden. Wir können uns zig Milliarden Bundeszuschuss jährlich nur leisten, weil wir so gute und willige Schuldner sind. Wir haben zwar eine doppelt so hohe Verschuldung wie Argentinien vor dem Staatsbankrott, aber im Gegensatz auch zu Russland und anderen Bankrotteuren leiht uns alle Welt gern Geld, weil wir immer alle Zinsen, auch sauteure, brav bedient haben.
Ab 2024 wird das Frauenpensionsalter schrittweise an jenes der Männer herangeführt. Das bringt wenigstens eine kleine Entlastung ...
Ja, das hilft etwas. Aber wir haben statt 6 bis 10 ganze 40 Jahre Übergang von 1993 bis 2033 gebraucht und sind EU-Schlusslicht. Nur die Türkei und die rückständigsten Länder weltweit sind hinter uns – und wir sind noch stolz darauf.
Muss das Pensionsantrittsalter insgesamt steigen?
Es muss steigen, solange die Lebenserwartung steigt. Zumindest um 30 bis 60 Tage der zuletzt 71 (bei Frauen) bis 101 Tage (bei Männern), die wir länger leben – jährlich. Derzeit gewinnen wir alle vier Jahre ein Jahr Lebenszeit dazu, fünf bis sieben Stunden täglich.
Ist das überall gleich in Österreich?
Nein, gar nicht. Der Anteil über 65-Jähriger lag etwa im Burgenland bereits 2017 höher als er in Wien im Jahr 2050 sein wird! Wien ist also, allein wegen des Zuzugs, um Jahrzehnte jünger, bunter, lebhafter, trotz viel mehr Hochbetagter als irgendwo sonst. Das Burgenland dagegen lebt auf einem älteren Planeten.
Das bedeutet?
Alter ist nie fix in Raum und Zeit, so die Relativitätstheorie von Altern und Alter. Wer ist „alt“? Immer mehr +65-Jährige? Oder nicht doch erst immer weniger viel Ältere, die nur noch 15 Jahre zu leben haben? Massenhafte individuelle Langlebigkeit führt zu Altersinflation und kollektiver Verjüngung. 65 zu Kreiskys Zeiten entspricht 73 heute, '40 ist das neue 30', wir sind 8-10 Jahre jünger als in den 1970ern. Doch Verjüngung durch Langlebigkeit braucht ebenso Gegenmittel wie Geldentwertung durch Teuerung.
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