Mercedes: Aufbruch in eine neue Zeit

Mercedes: Aufbruch in eine neue Zeit
Mit der „kleinen Heckflosse“ sprang Mercedes vor 60 Jahren beim Design über seinen Schatten. Das verhalf dem Autohersteller zu einem wirtschaftlichen Aufschwung – und den Kunden zu einem Traumauto.

Viele kennen ihn noch von früher, fast alle drehen den Kopf nach ihm um, wenn sie ihn auf der Straße sehen – den Mercedes W110, auch liebevoll „die kleine Heckflosse“ genannt. Was den Mythos dieses Autos, das zum ersten Mal im April 1961 bei Mercedes über das Band lief und heuer sein 60-Jahr-Jubiläum feiert, ausmacht? „Dass Mercedes bei diesem Auto beim Design über seinen Schatten gesprungen ist“, sagt Oldtimer-Experte Franz Farkas. Die Deutschen bewegten sich weg von dem biederen Design der Vorgänger hin zu amerikanisch angehauchten Formen.

Und dazu zählten auch die Heckflossen. „Mercedes war damit schon spät dran“, sagt Farkas. Konkurrent Opel hatte sie schon längst im Programm und in den USA neigte sich die Ära der Heckflossen bereits dem Ende zu. Doch es gibt einen zweiten Grund, der zum Mythos beitrug. „Das war Mercedes erstes Auto in der Wirtschaftswunderzeit. Viele Leute konnten sich zum ersten Mal wieder etwas Tolles leisten“, sagt Farkas.

Das Taxigewerbe entdeckte das Auto schnell für sich. „Solide Dieselfahrzeuge waren in der Branche gesucht“, so der Experte. Zwar war das 1,3-Tonnen-Fahrzeug mit nur 55 PS untermotorisiert – eine Beschleunigung von null auf hundert km/h dauert 27 Sekunden und die Höchstgeschwindigkeit liegt bei 130 km/h – doch störte das vor allem im damals noch trägen Verkehr kaum, schon gar nicht in den Städten.

Zeichen des Aufstiegs

„Das Durchschnittstempo lag damals bei 60, höchstens 80 km/h“, sagt Farkas. Viel wichtiger sei für die Taxler gewesen, dass die bequeme und elegante Limousine etwas hermachte und einen großen Innen- und einen riesigen Kofferraum hatte. Auch viele Unternehmer entdeckten das Fahrzeug als Wirtschafts -und Dienstfahrzeug. „Es war begehrt, weil man damit repräsentieren konnte“, sagt Farkas. Es war das Traumauto der gehobenen Mittelschicht, der damit ein Aufstieg vom damals weit verbreiteten VW Käfer gelang.

Zuverlässigkeit

Die kleine Heckflosse stand damals auch für einen hohen Grad an Sicherheit. „Es war das erste Auto von Mercedes und eines der ersten weltweit, bei dem Crash-Tests durchgeführt wurden“, sagt Farkas. Es wurde über Rampen gefahren und Überschlagstests unterzogen.

Das Fahrzeug verfügte über Knautschzonen und spezielle Türverschlüsse. Diese waren eine Novität, verhinderte sie doch, dass die Türen bei Unfällen nicht mehr aufsprangen und die Insassen aus dem Auto geschleudert wurden.

Ausschlaggebend für den Erfolg war auch der gute technische Ruf des Fahrzeugs, so Farkas: „Es galt als absolut zuverlässig, hat lange gehalten und ist nur selten gestanden.“ Es hat damit das Klischee mitbegründet, dass deutsche Autos ordentlich gebaut und langlebig sind – was in der Praxis so nicht immer ganz stimmt, merkt Farkas an.

Die kleine Heckflosse ist zwar nicht der Top-Seller der Mercedes-Modellpalette, gehört jedoch mit knapp einer Million produzierten Fahrzeugen zu den erfolgreichsten Modellen, die Mercedes je gebaut hat.

Zusätzlichen Glanz erhielt die Edelkarosse durch zahlreiche prominente Filmauftritte. So ist das Fahrzeug unter anderem in „Der Marathon-Mann“ mit Dustin Hoffman oder im James-Bond-Film „Im Geheimdienst ihrer Majestät“ zu sehen.

Der Name „kleine“ Heckflosse soll nicht irreführen. Mit seinen knapp fünf Metern Länge zählte das Fahrzeug damals zu den größten auf der Straße – was auch heute noch zutrifft. Es gab jedoch noch ein Oberklassemodell, das um mehr als einen halben Meter länger war, damit der kräftigere Sechs-Zylinder-Motor hineinpasst, die sogenannte „große“ Heckflosse, erzählt Farkas. Preislich lag aber auch die „kleine“ Version im oberen Segment. Der nicht viel kleinere Opel Rekord oder der Ford Taunus waren spürbar billiger.

Ende einer Ära

Mit dem Erscheinen des Nachfolgemodells Mercedes-Benz/8 („Strich-Acht“) war die Zeit der Heckflosse ab 1968 vorbei. „Das Design war passé, komplett von gestern, man wollte etwas Modernes“, erzählt Farkas. Der /8-er sei technisch gar nicht so sehr anders gewesen, die Karosserie war eckiger, er habe etwas mehr Leistung gehabt, aber keine technische Revolution dargestellt. Doch der Zeitgeist verlangte nach etwas Neuem. Auf dem Lande wurde das Fahrzeug noch jahrelang genutzt, die Besitzer waren oft wohlhabende Bauern, die nicht viele Kilometer damit zurücklegten. Auch als Taxis waren sie noch lange im Alltagsverkehr zu sehen und hielten sich bis in die 70er-, teils 80-er Jahre. Danach wurde die kleine Heckflosse im Straßenverkehr immer rarer und rarer.

Heute zähle die Heckflosse zu den seltenen Augenweiden auf den Straßen, es gebe noch relativ viele schön gepflegte Exemplare, sagt Farkas. Heckflossen-Clubs und Fans würden sich liebevoll um die alten Klassiker kümmern. Das einzige Problem heutzutage sei nicht die Mechanik, die sei zuverlässig und einfach, sondern der Rost.

Kommentare