75 Jahre Vespa: Der Roller mit den Flugzeugrädern
Schiffe, Lastwägen, Eisenbahnwaggons, Flugzeuge – der italienische Vespa-Hersteller Piaggio hat seit seiner Gründung 1884 verschiedenste Fahrzeuge gebaut. Die 1946 auf den Markt gebrachte Vespa entstand allerdings eher aus einer Notwendigkeit heraus. „Nach dem Zweiten Weltkrieg durfte Italien als Kriegsverlierer keine Kampfflugzeuge bauen, auch war der Bedarf nicht mehr gegeben“, sagt Franz Farkas, Motorrad-Journalist, ehemaliger Rennfahrer und Vespa-Kenner.
Desinteressierter Ingenieur
Also musste sich der damalige Flugzeughersteller Piaggio ein neues Geschäftsmodell suchen. Das Mobilitätsproblem, das im Europa der Nachkriegszeit herrschte, bot sich geradezu an. Also setzte man auf günstige Motorroller, die zuverlässig waren und ein breites Publikum ansprachen.
Die Materie war für Piaggio neu und der planende Ingenieur desinteressiert. Nicht die besten Voraussetzungen für einen Erfolg. Trotzdem wurde die Vespa zu einem Renner und gilt heute als Synonym für einen Roller. Unternehmenschef Enrico Piaggio beauftragte einen seiner Flugzeugingenieure, Corradino D’Ascanio, einen solchen zu entwerfen. Dieser war davon gar nicht begeistert, wollte er doch lieber Hubschrauber bauen, erzählt Farkas. Motorräder habe er gehasst, sie sollen ihm zu ölig und zu dreckig gewesen sein.
Großer Wurf
Dennoch machte er sich ans Werk. „Er konnte nur Werkzeuge benutzen, die im Unternehmen vorhanden waren“, sagt Farkas. Nach dem Krieg herrschte auch in Italien an allen Ecken und Enden Mangel, und obwohl nur eine eingeschränkte Zahl an Maschinen und Geräten zur Verfügung stand, gelang D’Ascanio ein einmaliger Wurf. Vielleicht auch, weil er als Aeronautiker völlig unvoreingenommen an die Aufgabe herangegangen war.
D’Ascanio griff auf eine Flugzeug-Blechpresse zurück und presste damit Blechstahlrahmen. „Die werden heute noch so gebaut“, sagt Farkas. Der Vorteil: Er ist verwindungssteif. Der Nachteil: Bei einem Unfall entsteht leichter ein Totalschaden, da er sich nicht geradebiegen lässt. Dank der Pressen konnte auch die markante Schürze gebaut werden, die vor Schmutz schützt und eine neue Kundengruppe ansprach: Frauen. Die Vespa hat deshalb auch eine Handschaltung, damit sich die Damen nicht mit einer Fußschaltung ihre schönen Schuhe ruinieren, erzählt Farkas.
Geistliche begeistert
Schutz bot auch die Verkleidung des Motors. Der freie Durchstieg (keine Stange bzw. kein Tank zwischen Lenksäule und Sattel) trug dazu bei, dass man mit Röcken oder Mänteln fahren konnte – ein Grund, warum die Vespa auch bei Geistlichen gut ankam, so Farkas.
Auch bei den Rädern fackelte der Flugzeugingenieur nicht lange herum. Er nahm was er hatte und baute Flugzeugräder in die Vespa ein. „Das sind Spornräder, die wurden von Piaggio-Flugzeugen übernommen“, sagt der Vespa-Experte. Durch die einseitige Radaufhängung konnten die Räder leichter gewechselt werden. Das war in den 40er- und 50er-Jahren entscheidend, denn die Straßen, so Farkas, waren von den Hufeisennägeln „verseucht“.
Unter Vespa-Fans sorgen die Räder heute noch für Diskussionen, viele halten sie für zu klein. Nicht zu Unrecht, meint Farkas: „Die kleinen Räder haben zwar in der Stadt den Vorteil, dass sie sehr wendig sind, über Land bei höheren Geschwindigkeiten kann es aber gefährlich werden.“ Da sie geringere Kreiselkräfte als große Räder haben, sind sie instabiler.
Hohes Tempo
Doch nicht nur technische Innovationen verhalfen dem kleinen Roller aus Pontedera bei Pisa zum Siegeszug, auch das Tempo, das Enrico Piaggio im Vertrieb an den Tag legte, war entscheidend. Da Piaggio ein multinationaler Konzern war und 1950 bereits 10.000 Servicestellen auf der ganzen Welt betrieb, war dieses neue Roller-Segment bereits besetzt, ehe andere Anbieter auf den Markt drängen konnten, erklärt Farkas. Nur Lambretta war ein ernsthafter Konkurrent.
Einen leichten Einbruch erlebte Vespa Mitte der 60er-Jahre, als das Auto zunehmend die Zweiräder verdrängte. Eine Lösung fand man darin, leistungsschwächere Motoren mit 50 Kubikzentimeter zu bauen, die man ab 16 Jahren fahren durfte. Dadurch wurde eine neue Kundengruppen erschlossen.
Österreich weltweit vorne
Spätestens seit den 80er-Jahren setzte wieder ein Vespa-Boom ein. Jugendliche begeisterten sich für den Roller, es entstanden zahlreiche Vespa-Treffen und eine ansehnliche Club-Szene. „Die Vespa ist zu einem Statussymbol geworden“, sagt Farkas. Ihre Beliebtheit ist bis heute ungebrochen. Ein altes Modell gilt als Aktie, die immer mehr Wert wird, Preise von 10.000 Euro und mehr sind keine Seltenheit.
Österreich ist für Piaggio ein besonderer Markt. Der Marktanteil im Rollersegment liegt bei 42 Prozent, das ist weltweit der höchste Wert, sagt Josef Faber, Geschäftsführer des österreichischen Vespa-Generalimporteurs Faber. Seit 1946 seien weltweit 19 Millionen Vespas verkauft worden, in Österreich immerhin eine Viertel Million.
Zugpferd ist die Vespa GTS 300, sagt Faber: „Sie ist seit mehr als zehn Jahren der meist gekaufte Roller Österreichs.“ Auch das zeichne Vespa aus: Ein Design, das über mehr als sieben Jahrzehnte sorgfältig gepflegt und weiterentwickelt wurde – und bis heute topaktuell ist.
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