Arbeitsbedingungen bei Amazon: So fühlt sich Fließbandarbeit an
Einmal über den Handybildschirm wischen und die Lieferung steht am nächsten Morgen vor der Tür: Einkaufen war noch nie so einfach. Der Online-Handel erlebt seit Jahren einen Boom. Ganz vorne mit dabei: Amazon. Der Onlineriese mit der fast unendlichen Warenvielfalt, dem Service, der schnellen Lieferung. Der aber, auf der anderen Seite, auch immer wieder für Schlagzeilen sorgt. In internationalen Berichten werden höchst fragwürdige Arbeitssituationen geschildert. Mitarbeiter dürften keine Pausen machen, sie seien überwacht und überarbeitet.
Umso überraschender, dass der KURIER eine Zusage für eine Mitarbeit im Amazon-Verteilzentrum in Wien-Simmering erhält. Zwei Tage dürfen wir vor Ort mit dabei sein, mitfilmen und sogar mitarbeiten. Zwei Tage, in denen wir Amazon von innen sehen, aus Mitarbeitersicht.
Tag eins, Vormittag
Wir finden uns im Verteilzentrum auf der Schemmerlstraße 70 in Wien-Simmering ein. Begrüßt werden wir von Standortleiter Sebastian Sprigade im Mitarbeiterbereich, er bringt uns gleich die Sicherheitsschuhe mit. Ist der Job gefährlich? „Das würde ich jetzt nicht behaupten. Wir haben aber sehr hohe Sicherheitsstandards“, sagt Sprigade. Er hat den Satz gerade fertig gesprochen, schon begehe ich meinen ersten Sicherheitsfehler: Ich reiße das Etikett am Schuh ohne Handschuhe ab. Klare Verletzungsgefahr, hebt Sprigade hervor.
Das Verteilzentrum ist eine 5.900m² große Halle. Hier treffen Bestellungen aus Logistikzentren, die in Polen, Tschechien und Deutschland sind, ein, damit sie dann an Kunden geliefert werden können. „Die Nachtschicht kümmert sich um die Warenaufnahme, die Frühschicht bringt sie in den Abholbereich und die Spätschicht bearbeitet jene Bestellungen, die Fahrer nicht liefern konnten“, erklärt Standortleiter Sprigade. Im Verteilzentrum wird also rund um die Uhr gearbeitet, genauer gesagt 21 Stunden am Tag in einem Drei-Schicht-Betrieb.
Die Zahl der Lieferungen, die hier täglich verarbeitet werden, liegt im mittleren fünfstelligen Bereich. Zigtausende also, aber zu viele werden es nie, weil alles vorab genau berechnet wird. Besonders stressig wird es an den sogenannten „Peaks“ (Spitzen), also zu Weihnachten oder am „Amazon Prime Day“.
Man würde glauben, dass man bei der Menge an Paketen viel über Kunden erfahren könnte. Über Vorlieben und Trends. Aber: „Wir erfahren nichts über unsere Kunden“, sagt Frühschichtleiterin Mayar El Kazaz. Weil ja alles schon verpackt ist. Nur manchmal könne man sich bei unverpackten Lieferungen Geschenk-Ideen abschauen: „Zu Weihnachten haben wir unzählige Heißluftfritteusen ausgeliefert“, lacht sie. Und manchmal erfährt man etwas über die Haustiere der Kunden. Lieferanten bekommen bei manchen Adressen eine Hundewarnung, markiert mit einer Pfote. Eine der vielen Sicherheitsmaßnahmen.
Wort des Tages
Schnell wird klar, was hier oberste Priorität hat: die Sicherheit. Man merkt es, weil jedes Detail in der Halle seinen abgemessenen, zugeordneten Platz hat, und, weil es bei jeder Gelegenheit betont wird. Mitarbeiter sollen ihren „ursprünglichen Zustand“ beibehalten, so der Standortleiter. Und so nach Hause gehen können, wie sie auch gekommen sind. „Unsere Sicherheitsstandards übertreffen deswegen oft auch die nationalen.“ Außerdem führe Ordnung zu Stressfreiheit. Stolz wird auch ein Banner präsentiert: „692 Tage seit dem letzten aufgezeichneten Arbeitsunfall“, steht darauf.
Umso vorsichtiger gehe ich also an die Arbeit bzw. meine Einschulung heran. Gut ausgerüstet steige ich mit Sicherheitsweste, festem Schuhwerk und Handschuhen die Stufen hinunter – eine Hand am Geländer. Auch das ist eine Sicherheitsvorschrift, auf die ich aufmerksam gemacht werde.
Die Halle ist in Stationen unterteilt: Eine Sicherheitsschule, ein winziger HR-Raum mitten im Geschehen – und sehr viele Fließbänder. Auffallend ist, dass es hier keine Roboter gibt, die man aus vollautomatisierten Logistikzentren kennt. Roboter bekleben anderswo die Pakete und sortieren sie sogar selbstständig. So ist es nicht in Simmering, hier wird alles (noch) mit Menschenhand gemacht. Ob die Mitarbeiter Angst vor der Digitalisierung haben? „Nein, gar nicht“, antwortet Abdullah Ay, ein Nachtschicht-Mitarbeiter. Immerhin gebe es genug Jobs im Konzern, die nur Menschen machen könnten.
Tag zwei, 7 Uhr früh
Es ist so weit: Ich starte meine Schicht bei der ersten Station. LKW liefern die Ware und die Nachtschicht nimmt sie am Wareneingang an. Im ersten Schritt werden die Pakete auf das Fließband befördert, wo ich mit einer Sticker-Pistole stehe und die Pakete mit gelben Klebern versehe, auf denen die Adresse steht.
Klingt leicht, ist es aber nicht. Man scannt den Code und muss die gelben Pickerl sofort an das Paket heften, während es ziemlich schnell vorbeizieht. Meine Kollegen arbeiten in rasender Geschwindigkeit, ich hingegen bringe den Betrieb fast zum Stillstand (ich entschuldige mich für alle Pakete, die an diesem Tag nicht pünktlich angekommen sind). Als ich endlich den Takt gefunden habe, ging das dann recht gut.
- Amazons Geschichte
Der Onlineriese wurde 1994 von Jeff Bezos in seiner Garage in Seattle gegründet. Der Name „Amazon“ leitet sich vom längsten Fluss der Welt ab – dem Amazonas. Er soll die Produktvielfalt symbolisieren. Mit der Idee wurde Bezos zu einem der reichsten Menschen der Welt. Amazon-CEO ist er jedoch nicht mehr. Diese Position füllt Andy Jassy seit 2021
- 575 Milliarden US-Dollar
Umsatz machte Amazon 2023 weltweit. Laut eigenen Angaben hat Amazon bisher über 525 Millionen Euro in die österreichische Wirtschaft investiert und Hunderte Arbeitsplätze geschaffen
- Amazon in Simmering
Das Verteilzentrum in Simmering bietet rund 120 Arbeitsplätze. Zum Jahresende werden es durch saisonale Mitarbeiter etwas mehr
Nach einiger Zeit wechsle ich meine Position, bin nicht mehr Pickerl-Amateurin, sondern „Pusherin“. Als Pusherin muss ich die beklebten Pakete auf die richten Förderbänder („Fingers“) verteilen, in A, B, C oder D. Der Druck ist groß, die Pakete rasen vorbei. Als ich ein A-Paket versehentlich in den D-Gang schubse und unauffällig versuche, es wieder zurück zu fischen, lehne ich mich über das Fließband.
Ein Fehler, den Abdullah Ay sofort bemerkt: „Das ist schon einmal falsch“, sagt er. Ay ist streng, weil es seine Mitverantwortung ist, dass ich es richtig mache. Sicherheit muss von jedem hier gelebt werden. Das geht so weit, dass sich auch Mitarbeiter gegenseitig zurechtweisen, wenn sie Fehler bemerken.
An der Sortierstation
Um Verletzungen zu vermeiden, wärme ich mich für Station zwei auf, stretche meine Handgelenke. Ich treffe Sortiermitarbeiterin Jarmila Adamidis. Sie überreicht ein Gerät für mein Handgelenk und einen Fingerscanner, den ich wie einen Ring anstecke. Die Pakete werden von einem Regal nun in Taschen sortiert, die mit bunten Lichtern den richtigen Platz signalisieren. Alles wird mehrmals gescannt und im Gerät vermerkt – auch die Fehler, wie Adamidis verrät. Fehler sind zwar angeblich nicht schlimm, aber man möchte sie trotzdem vermeiden. Die Arbeit wirkt monoton, gleicht aber tatsächlich eher einer Choreografie.
Scannen, Licht, Tasche. Alles passt zusammen und wirkt perfekt eingespielt. Sobald die Taschen gefüllt sind, machen wir uns auf den Weg zu Station drei, der sogenannten „Staging Lane“. Hier werden Wagerl gescannt und wiederum mit Taschen oder Paketen befüllt, damit „die Welle“, das sind die Lieferanten, sie abholen und in ihre Fahrzeuge verladen können. „Die Fahrer bekommen die fertige Tour zusammengestellt, müssen also die Pakete nicht mehr raussuchen“, erklärt Schichtleiterin El Kazaz.
An dieser Stelle komme ich ins Schwitzen. Taschen, die bis zu 15 Kilo schwer sind, müssen alleine gestemmt werden. Vom Regal bis ins Wagerl. Bei ungeschickten Anfängern prallen die Säcke auf die Füße – ein Glück, dass ich Sicherheitsschuhe trage. Das Gerät verfolgt mit, wie lange man zwischen jedem Scan braucht – alles soll zügig ablaufen.
„Wir brauchen kein Fitnessstudio. Das ist unser Work-out“, lacht Adamidis. Und fügt hinzu: „Man muss schon körperlich fit sein, aber der Job ist super für Frauen mit Kindern. Wir arbeiten fünf Stunden und haben somit Zeit, unsere Kinder in die Schule zu bringen und wieder abzuholen“, erzählt sie, während sie das Wagerl an die richtige Stelle schiebt.
Alles gut gemeint
Die Arbeit in der Amazon-Halle – alles hier ist penibel organisiert und getaktet. Man will es gut machen, dem Ruf entgegenwirken. „Wir versuchen, Vorurteile abzubauen, und bemühen uns aktiv um eine gute Nachbarschaftspflege“, erklärt Standortleiter Sebastian Sprigade. „Wenn ein amerikanisches Ufo in einer Gegend landet, wirkt es unnahbar. Wir wollen aber zeigen, dass hier normale Menschen arbeiten.“
Oft müssten sich Mitarbeiter für ihre Arbeit bei Amazon auch rechtfertigen. Dabei sehen sie diese sogar positiv, wie Jarmila Adamidis verdeutlicht: „Es bedeutet Sicherheit für mich, diese Arbeit zu haben. Und ich glaube, dass ich diesen Job nicht so schnell verlieren werde.“
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