ÖBB-Chef Matthä: "Jeder einzelne unzufriedene Fahrgast schmerzt mich“
Die Österreichischen Bundesbahnen begehen am heutigen Sonntag ihren 100. Geburtstag. In diesem Jubiläumsjahr befindet sich das Unternehmen im Umbruch: Einerseits steuert man auf einen neuen Fahrgastrekord zu, andererseits mehren sich die Beschwerden. Aus diesem Anlass sprach der KURIER mit Konzern-Chef Andreas Matthä über aktuelle Herausforderungen.
KURIER: Herr Matthä, die ÖBB feiern gerade das 100-Jahre-Jubiläum. Was sind derzeit die größten Herausforderungen?
Andreas Matthä: Ich sehe drei große Themen: Erstens Europa auf Schiene zu bringen, um auch wirklich konkurrenzfähig zur Straße und zum Flugverkehr zu sein. Solange wir in jedem Land unterschiedliche technische Anforderungen für Fahrzeuge, Signale und Lokführer haben, ist die Bahn nicht effizient genug. Europäische Standardisierung ist unbedingt notwendig – und die Digitalisierung ist dafür eine große Chance.
Zweitens?
Der Klimawandel. Wir wissen, dass wir die Klimaziele nur mit einer Verkehrswende schaffen. Drittens: Den Generationswandel bei den ÖBB. Etwa ein Fünftel unserer Belegschaft wird in den nächsten fünf Jahren in Pension gehen.
Die ÖBB suchen im Jahr neue 3.000 Mitarbeiter, davon geschätzte 1.000 Lokführer. Was machen die ÖBB, um als Arbeitgeber attraktiver zu werden?
Die 3.000 Mitarbeiter sind in etwa der Jahresbedarf. Im vergangenen Jahr ist es uns sogar gelungen, 5.000 Mitarbeiter zu rekrutieren. Glücklicherweise bekommen wir ausreichend Personal, weil wir als starker und zukunftsträchtiger Arbeitgeber gelten. Wir zahlen die Gehälter pünktlich, bieten Sozialleistungen wie Kinderbetreuung und Jobs mit Sinn.
Was wollen junge Bewerber?
Gerade der Aspekt der Nachhaltigkeit und Verantwortung ist vielen jungen Bewerberinnen sehr wichtig. Wir müssen als ÖBB aber auch beweglicher werden und probieren daher neue Modelle aus – bei der Arbeitszeit, in der Ausbildung, in der Führung. Fakt ist: Wir müssen uns diverser aufstellen. Die Mitarbeiter von heute verfolgen einen „Plug-and-play-Ansatz“ und der Arbeitgeber muss sich beim Arbeitnehmer bewerben, nicht umgekehrt. Seit heuer testen wir in einigen Bereichen zum Beispiel einen Flexi-Friday, die Mitarbeiter können sich aussuchen, ob sie ihr Arbeitssoll in vier oder fünf Tagen abarbeiten. Wir forcieren neue Lehrberufe und Lehre mit Matura und forcieren die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, weil wir Frauen für die Bahn mobilisieren wollen.
Die ÖBB erzielten im ersten Halbjahr einen Passagierrekord. Es gibt aber Beschwerden über überfüllte Züge und über Regionalgarnituren auf Railjet-Strecken.
Jeder einzelne unzufriedene Fahrgast schmerzt mich. Trotzdem wissen wir, dass mehr als 80 Prozent mit unserem Service zufrieden sind. Wir erleben gerade einen Bahnboom, mit aktuell 20 Prozent mehr Fahrgästen im Fernverkehr als im Rekordjahr 2019. Gleichzeitig spüren wir massive Lieferengpässe in der Bahnindustrie. Das bedeutet dann leider, dass noch einige ältere Fahrzeuge im Einsatz bleiben müssen.
Ein Beispiel?
Die bekannte blaue S-Bahn in Wien, das Modell 4020, müsste schon längst in Pension sein, nun wird sie bis 2028 fahren. Wir haben die Investitionen in neue Züge jedenfalls auf eine Rekordsumme von über 4,7 Milliarden Euro aufgestockt und erhöhen die Sitzplatzkapazität damit um 40 Prozent bis 2030. Die gute Nachricht: Bereits ab Ende 2023 kommen die ersten neuen Nightjets, Anfang 2024 acht längere Railjets. Ab 2025 Züge für den inneralpinen Verkehr und 2026 folgen die neuen Doppelstockzüge.
Wie sehr hat das Klimaticket die Nachfrage explodieren lassen und die Kapazitäten an ihre Grenzen gebracht?
Mehr als 200.000 Menschen haben ein Klimaticket gekauft – ein voller Erfolg aus meiner Sicht. Das Klimaticket erleichtert den Zugang zum öffentlichen Verkehr – der Umstieg vom Auto wird damit sehr einfach. Das ist genau die Maßnahme, die wir brauchen. Durch zusätzliche Verbindungen und neue Züge können wir den Zustrom zukünftig gut aufnehmen.
Die Großbauprojekte wie die Tunnel haben sich um zumindest zehn Prozent verteuert. Die Kredite werden teurer. Gibt es Abstriche oder wird weitergebaut?
Die Preissteigerung, die alle Österreicherinnen stark spüren, wirkt sich auch auf die Bauprojekte aus. Die hohe Inflation haben wir in die Planung bereits zum Teil einfließen lassen. Und selbstverständlich werden alle geplanten Großprojekte planmäßig weitergebaut. Koralm-, Semmering-, oder Brenner-Basis-Tunnel sind Jahrhundertprojekte, die die Mobilität in Österreich verändern werden und der Volkswirtschaft einen großen Impuls geben.
Wäre es nicht bezüglich des Klimawandels besser, wieder mehr Nebenstrecken zu öffnen?
Das klingt zunächst verlockend, aber im Verkehrssystem geht es immer um Effizienz. Wir müssen sicherstellen, dass wir mit den vorhandenen Steuermitteln maximalen Nutzen für die Menschen, die Wirtschaft und das Klima stiften. 90 Prozent der Fahrgäste der ÖBB bewegen sich auf rund 300 Bahnhöfen, die restlichen zehn Prozent verteilen sich auf mehr als 700 Bahnhöfe. Und in manchen Regionen ist ein gut getaktetes und gut ausgelastetes Bus-Angebot die wesentlich sinnvollere Variante als eine schwach ausgelastete Regionalbahn. Aufgelassene Regionalstrecken wiederzubeleben, steht daher derzeit nicht auf unserer Agenda. Aber wir setzen die Modernisierung und Attraktivierung der bestehenden Regionalbahnen natürlich fort und werden zwischen 2023 und 2028 1,8 Milliarden Euro dafür investieren.
Die Deutsche Bahn steckt in Riesen-Schwierigkeiten, weil die Infrastruktur veraltet und schadhaft ist. Welche Auswirkungen hat das auf die Fernzüge der ÖBB?
Deutschland muss seine Bahninfrastruktur dringend sanieren und modernisieren und steht vor großen Investitionen. Auch auf wichtigen Strecken für uns, wie dem Deutschen Eck, wird gebaut. Die Einschränkungen und Verspätungen im Zugverkehr auf diesem Korridor wirken voll durch auf die gesamte Weststrecke in Österreich. Das freut uns gar nicht, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit sind für die ÖBB ja entscheidend. Aber es ist auch klar, dass bei der Bahninfrastruktur in Deutschland dringender Handlungsbedarf ist und diese Baustellen unumgänglich sind. Wichtig ist, dass die Baumaßnahmen frühzeitig abgestimmt werden. Dann können wir uns mit Abweichungsfahrplänen vorbereiten und die Auswirkungen für unsere Fahrgäste möglichst gering halten. Das Team der ÖBB-Infrastruktur ist laufend in Gesprächen mit den Kollegen von der Deutschen Bahn und ich bringe mich selbst auch immer wieder ein.
Im Güterverkehr ist die Rezession schon zu spüren. Die ÖBB haben einen Einbruch von 11,2 Prozent auf 46,1 Millionen Tonnen bis im Juli 2023.
2023 ist für den Güterverkehr ein sehr schwieriges Jahr. Die Industrienachfrage schwächt sich ab, damit gehen auch die Transporte zurück. Dazu kommt, dass die Stromkosten im Vergleich zum Dieselpreis massiv gestiegen sind, was zu einer Rückverlagerung auf die Straße führt. Der hohe Strompreis und die gestiegenen Faktorkosten machen uns in Österreich sehr zu schaffen. Wir versuchen, uns im Güterverkehrsbereich noch internationaler aufzustellen, um auch von anderen Handelsströmen zu profitieren.
Der Elektrifizierungsgrad der ÖBB beträgt derzeit 74 Prozent. Wie wollen Sie die Bahn grüner machen?
Streckentechnisch betrachtet wollen wir 2025 89% des Schienennetzes elektrifiziert haben. Umgerechnet auf die Verkehrsleistung sind wir aber heute schon bei 90%. In unserer Energiestrategie drücken wir gerade auf zwei Hebel. Wir wollen unsere Eigenenergieerzeugung ausbauen und von 60 auf 80% Selbstversorgung steigern. Dafür modernisieren wir unsere Wasserkraftwerke, bauen Windräder und PV-Anlagen, andererseits wollen wir unsere Dieselloks sukzessive durch Akkutriebzüge ersetzen. Erst vor wenigen Wochen haben wir entsprechende Rahmenverträge mit Siemens und Stadler vereinbart.
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