Zu ihrem 100. Geburtstag befinden sich die ÖBB im Umbruch

© ÖBB/Harald Eisenberger
Zum runden Geburtstag erlebt die Bahn einen Boom – und steht zugleich vor strukturellen Problemen.
Zu ihrem 100. Geburtstag sind die ÖBB im Umbruch. Einerseits steigen die Fahrgastzahlen durch das zunehmende Klimabewusstsein. Im ersten Halbjahr 2023 verbuchte die Bahn 133,5 Millionen Passagiere – ein Plus von 4,6 Prozent im Vergleich zu 2019. Für das Gesamtjahr wird dementsprechend ein neuer Rekord erwartet.
Dabei hat man schon im Vorjahr ordentlich zugelegt: Im Nahverkehr wurden 2022 fast 211 Millionen Reisende befördert, was einem Plus von 29 Prozent entsprach, im Fernverkehr waren es 41,8 Millionen Passagiere - ein Zuwachs von mehr als 71 Prozent. Damit wurde sogar das Allzeit-Hoch aus dem Jahr 2019 egalisiert.
Einen regelrechten Run gibt es auf die regelmäßig ausgebuchten Nachtzüge, rund 1,5 Millionen Fahrgäste reisten zuletzt mit dem Nightjet. Doch gibt es immer wieder Beschwerden über gebuchte, aber nicht vorhandene Schlafwagenabteile beziehungsweise Waggons.
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Nightjet-Ausfälle haben zudem längere Folgen: Fällt zum Beispiel ein schadhafter Waggon einer Garnitur aus, dauert es vier Nächte, bis er ersetzt werden kann. Zwar haben die ÖBB vor langer Zeit neue Nachtzüge bestellt, die Lieferung soll aber seit eineinhalb Jahren überfällig sein.
Generell ist die Flotte in die Jahre gekommen. Regionalzüge müssen reihenweise defekte Railjets ersetzen. Statt Businessabteil, Ruhezone und Restaurant warten nun oft Cityjets und manchmal noch älteres Wagenmaterial auf die verärgerten Passagiere. Besonders betroffen ist die Schnellverbindung Wien-Villach.
Und noch bis mindestens 2028 werden 32 Stück der blau-weißen 4020er-Schnellbahnen, die in den 70er-Jahren entwickelt wurden, unterwegs sein.
Die ab 2008 in den Dienst gestellten 60 Railjets werden seit heuer von Grund auf saniert, in drei Jahren soll auf der Weststrecke auch eine doppelstöckige Version eingesetzt werden. Dazu werden auf vielen Regionalstrecken die Dieselloks durch elektrisch betriebene ersetzt.
Insgesamt will die Bahn bis 2030 4,7 Milliarden Euro in Hunderte neue Züge investieren. Größtenteils von Siemens, im Vorjahr wurde aber auch ein Rahmenvertrag für bis zu 186 Doppelstock-Triebzüge des Schweizer Herstellers Stadler abgeschlossen. 35 der Züge sollen ab Mitte 2026 „schrittweise“ im Nah- und Fernverkehr eingesetzt werden.
Weiters sollen bis zu 540 Elektrotriebzüge des Typs Siemens Mireo beschafft und ab 2028 ausgeliefert werden.
Ein weiterer Kritikpunkt: Während die ÖBB im Nahverkehr mit 95,5 Prozent ziemlich pünktlich sind, ist der Fernverkehr mit 78,4 Prozent Pünktlichkeit mittlerweile ein Drama. Dafür verantwortlich sind laut ÖBB die Bahnen in den Nachbarländern, etwa in Deutschland.
Zu den Verspätungsursachen zählen aber auch Anlagen- und Fahrzeugstörungen sowie der Personalmangel, den Bahn-Kenner als eklatant schildern. „Die Personalsituation ist die größte Herausforderung für den Eisenbahnsektor“, behauptet ein ÖBB-Insider. „Wir haben einen Wartungsrückstand in den Werkstätten und bei der Streckenerhaltung. Auch rollt die Pensionierungswelle massiv auf uns zu.“
Offiziell suchen die ÖBB rund 3.000 neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter pro Jahr, geht doch in den nächsten Jahren ein Viertel der bei Postbus und Bahn beschäftigten Angestellten in Pension.
Der Insider widerspricht: „Das Unternehmen sagt, dass man 400 bis 500 Lokführer pro Jahr braucht. Ich gehe aber davon aus, dass wir im Lokfahrdienst 1.000 Personen pro Jahr brauchen.“ Daher sei der behauptete Gesamtbedarf von 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern pro Jahr zu tief gegriffen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Ausbau des europäischen Zugsicherungssystems ETCS Level 2, das neben mehr Sicherheit auch dichtere Taktungen bringt. Bisher sind erst 300 Bahnkilometer damit ausgerüstet, bis 2026 sollen die Koralmbahn, die Pottendorfer Linie, die Westbahn zwischen Linz und Wels sowie der Großraum Wien hochgerüstet werden.
In fünfzehn Jahren sollen dann bereits 3.700 Kilometer mit dem System ausgestattet sein.
Aufholbedarf gibt es auch noch bei der Barrierefreiheit. Derzeit sind erst 75 Prozent der Züge für Personen im Rollstuhl barrierefrei zugänglich, 2025 sollen es über 90 Prozent sein. „Alle neu angeschafften Fahrzeuge sind ohne Barrieren zugänglich und verfügen über optische und akustische Fahrgastinformation", sagt ÖBB-Sprecher Daniel Pinka.
„Der Nightjet der neuen Generation wird mit einem Multifunktionswagen unterwegs sein, der über einen Niederflureinstieg verfügt und somit einen barrierefreien Zugang zum neuen modernen PRM Liegewagenabteil (passenger with reduced mobility, Anm.) ermöglicht", sagt Pinka. Und: Weil barrierefreie Einstiege für alle Reisende den Komfort erhöhen, wurden auch die Railjets der neuen Generation mit Niederflureinstieg gestaltet.
Mit Jahresende 2022 konnten laut Pinka rund 86 Prozent der Fahrgäste einen der 437 barrierefreie Bahnhöfe benutzen. Bis spätestens 2027 sollen 500 Bahnhöfe barrierefrei ausgebaut sein. Davon würden dann 90 Prozent aller Fahrgäste profitieren.
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