Ages: Existenz ruiniert – eine Frau wehrt sich

Attac hatte, unterstützt von Transparency International, ganze Arbeit geleistet. „Wir haben es geschafft. Über 5.700 Protestmails an den Gesundheitsminister haben gewirkt“, frohlockte das NGO im März über seine Internet-Kampagne gegen die neu bestellte Leiterin der Medizinmarktaufsicht der Ages. Der neue grüne Gesundheitsminister Johannes Rauch beugte sich dem Druck des Netzes und veranlasste als eine seiner ersten Handlungen, dass die Ages-Geschäftsführer den Vertrag mit Helga Tieben rückgängig machten.
Die Managerin kam von der Pharmig, der Interessensvertretung der Pharma-Unternehmen. Unvereinbar, völlig inakzeptabel, skandalös, Risiko finanzieller Zusatzbelastung für das Gesundheitssystem, gegen alle Compliance-Regeln, etc. wurde gegen Tieben kampagnisiert. Fehlte gerade noch der Ruf nach der Korruptions-Staatsanwaltschaft. Tieben wurde unterstellt, als Chefin der Medizinmarktaufsicht Lobbyismus für die Pharma-Industrie zu betreiben.
Ganz so einfach ist die Sache allerdings nicht.
Doch der Reihe nach. Im Herbst 2021 wurde die pensionsbedingte Neubesetzung der Medizinmarktaufsicht der Ages ausgeschrieben. In der Öffentlichkeit tobten die Impfgegner gegen Gesundheitsminister und Regierung, die Stimmung gegen die Pharmaindustrie war auf einem negativen Höhepunkt.
Tieben, seit 1995 in der Pharmig, hatte die Fachabteilung „Regulatory Affairs, Supply & Innovation“ aufgebaut und bewarb sich. In der achtköpfigen Bewerbungskommission saß neben den zwei Geschäftsführern auch Katharina Reich, Generaldirektorin für die Öffentliche Gesundheit im Ministerium. An der Qualifikation von Tieben, die kein politisches Netzwerk hat, gab es keine Zweifel, die Entscheidung für sie fiel einstimmig. Auch ein Personalberater wurde beigezogen.
Willkommens-Mail
Am 16. Dezember wurde Tieben von der Ages per Mail willkommen geheißen, wenige Tage später der auf fünf Jahre befristete Vertrag unterschrieben.
Dann aber startete die Kampagne. FPÖ, Neos und SPÖ bombardierten Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein mit parlamentarischen Anfragen und über Tieben ergoss sich im Netz ein Shitstorm. Wie fühlt man sich in einer derartigen Situation? „Mir ging es nicht gut. Getrieben von politischen und institutionellen Einzelinteressen wurde eine unsachliche Hetzkampagne gegen mich betrieben, die meine gesamte Tätigkeit im Gesundheitswesen und meine Stellung als ausgewiesene Expertin infrage stellt“, schildert Tieben gegenüber dem KURIER.
Mückstein verteidigte die Postenbesetzung, er mische sich nicht in die Belange des Ages ein. Die Geschäftsführer hätten ihm versichert, es sei ordnungsgemäß ausgeschrieben und eine der besten Bewerberinnen ausgewählt worden, sagte er in Ö1.
Am 8. März aber kam Rauch und gab offenbar Anweisung, den Vertrag aufzulösen. Tieben bereitete sich inzwischen intensiv auf den neuen Job vor, gemeinsam mit dem Ages-Management. Am 1. April wäre Dienstbeginn gewesen. Doch zwei Tage zuvor, am 30. März, trat die Ages nach einem kurzen Anruf vom Dienstvertrag zurück. Einen Tag später wurde das Probedienstverhältnis, das noch gar nicht begonnen hatte, aufgelöst.
Ihr Arbeitsverhältnis bei der Pharmig hatte Tieben bereits gekündigt, jetzt steht sie mit 52 Jahren ohne Job da: „Meine berufliche Existenz wurde ruiniert“. Sie braucht vermutlich gar nicht versuchen, sich um einen anderen Job im Gesundheitswesen zu bewerben.
Tieben fordert nun mit Hilfe von Liebenwein Rechtsanwälte Schadenersatz. Konkret die Auszahlung des Vertrages sowie die Abgeltung der erlittenen Reputationsschäden und des immateriellen Schadens aufgrund des Eingriffs in ihre Privatsphäre, insgesamt mehr als 400.000 Euro.
Rauch gibt zu, dass er den Auftrag gegeben habe, die Besetzung mit Tieben nochmals zu prüfen. Die negative Berichterstattung habe für große Unruhe gesorgt. Nach sachlicher Prüfung sei die Ages „zum Entschluss gekommen, dass die Neubesetzung nicht wie geplant vorgenommen wird“, erklärt Rauch gegenüber dem KURIER.
Die Sensibilität des Themas sei ihm sehr bewusst. Gerade jetzt in der Covidkrise würden viele Menschen die Interessen der Pharmalobby hinter den Impfprogrammen und neuen Medikamenten vermuten, „wir benötigen deshalb gerade jetzt Vertrauen in Impfungen und Therapien“.
„Große Unruhe“
Die Ages argumentiert sehr ähnlich, erwähnt aber nichts von einer Weisung des Ministers: „Im Zuge der geplanten Neubesetzung der Geschäftsfeldleitung Medizinmarktaufsicht kam es zu einer negativen Berichterstattung, die auf diesem sensiblen Gebiet für große Unruhe sorgte.“
Um dem entgegenzuwirken, habe man beschlossen, dass die Neubesetzung nicht wie geplant vorgenommen werde. Grund dafür sei „eine sachliche Erwägung, die professionelle Arbeit im Bereich Arzneimittel und Medizinprodukte unbeeinflusst von medialem Interesse fortsetzen zu können“.
Sowohl Ages als auch Minister geben damit zu, dass nicht die fachliche Qualifikation von Tieben, sondern die öffentliche Wirkung ausschlaggebend für die Revidierung der Bestellung war. Allfälligen Schadensersatz will die Ages nicht kommentieren, das sei rechtlich zu klären.
Der Job wird übrigens demnächst wieder ausgeschrieben.
Ages Marktaufsicht
Die Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit gehört zum Gesundheitsministerium. Die Abteilung Medizinmarkt-Aufsicht hat 300 Mitarbeiter und ist zuständig für Arzneimittelzulassungen, klinische Prüfungen und die Überwachung der Arzneimittelsicherheit. Die Leitung dieser Abteilung entscheidet nicht über die Zulassung von Medikamenten, das ist ein EU-Prozess.
Pharmig
Freiwillige Interessensvertretung, also Lobbying-Organisation, der heimischen Pharma-Industrie. Rund 120 Unternehmen als Mitglieder, Marktabdeckung 95 Prozent. Agiert auch als Vermittler zwischen Behörden und Unternehmen.

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