EU-Kommissar zu Schulden: "Müssen vielleicht kreativer sein"
Der größte Schock ist verdaut. Auch wenn die Corona-Pandemie noch nicht vorüber ist, wächst Europas Wirtschaft wieder. Einer, der sich darüber besonders freut, ist EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni. Aber auf den gebürtigen Italiener warten gleich die nächsten Hürden: Er will den Stabilitätspakt der Euroländer reformieren. Wobei die Regierungen in Wien und Berlin fürchten: Er wolle die Regeln lockern, also den hochverschuldeten Ländern des Südens noch mehr Schulden durchgehen lassen.
Ein Interview mit dem früheren italienischen Premier über Corona-Restriktionen, Schuldenabbau, alte Streitthemen und die Impfpflicht
KURIER: Sollen die Staaten ihre Corona-Maßnahmen allmählich mildern, auch um die negativen Folgen für Wirtschaft abzufedern? Brauchen wir einen europäischen „Freiheitstag“?
Paolo Gentiloni: Wir befinden uns gerade in Wochen des Übergangs. Die Fälle schwerer Erkrankungen sinken, ebenso die Zahl der Hospitalisierungen. In manchen Ländern, vor allem im Osten Europas, gibt es aber leider nach wir vor viele Todesfälle, und das hängt ganz klar mit der Impfrate zusammen. Aber alles in allem sind wir in Europa auf dem Weg, die Corona-Restriktionen zu lockern.
Brauchen wir eine Impfpflicht?
Ich bin nicht prinzipiell gegen eine Impfpflicht. In meiner Zeit als italienischer Premierminister 2017 habe ich die Impfpflicht für Kinder gegen Masern eingeführt. Aber derzeit sehe ich keine Notwendigkeit über eine Corona-Impfpflicht zu diskutieren.
Die Wirtschaft im Euro-Raum wird heuer um 4 Prozent wachsen, in Österreich sogar um 4,3 Prozent. Ein guter Zeitpunkt also, aus österreichischer Sicht, zu den strengen Defizitregeln im Euroraum zurückzukehren. Diese Regeln aber sollen nun reformiert werden. Wie wollen Sie den alten Schulden-Streit zwischen den „frugalen“ Ländern wie Österreich und den Ländern des Südens vermeiden?
Niemand ist daran interessiert, ein neues Kapitel in diesem alten Streit aufzuschlagen. Diese unterschiedlichen Sichtweisen haben ihre kulturellen und wirtschaftlichen Wurzeln. Aber zwei Dinge sind neu, die uns ermöglichen können, die Gräben zu überwinden. Erstens brauchen wir enorme Investitionen, nicht nur um unsere Wirtschaft nach der Pandemie wiederaufzurichten.
Es geht auch um den Umstieg zu einer klimafreundlichen Wirtschaft und ihren Herausforderungen, Schwierigkeiten und sozialen Folgen. Es geht um unsere Wettbewerbsfähigkeit, um nicht den Anschluss an die USA und China zu verlieren. Und es geht um Lektionen aus den in den vergangenen Jahren gelernten sozialen und Gesundheitskrisen. Wenn wir all das in Betracht ziehen, werden wir den alten Streit vermeiden.
Ist es möglich, ein realistisches Senken der Schulden mit einer wachstumsfreundlichen Politik zu verbinden?
Keine leichte Aufgabe, aber die Mühe lohnt sich. Damit komme ich zum zweiten Punkt: Sie wissen, dass wir im Euroraum einen nach Corona erhöhten Stand der Staatschulden haben – im Schnitt 100 Prozent. Und ich glaube, wir sind uns alle einig, dass es unrealistisch ist, diesen Schuldenstand jedes Jahr um ein Zwanzigstel bis auf 60 Prozent zu reduzieren. Was wollen wir? Eine formale Regel, von der wir wissen, dass sie nicht durchgesetzt werden kann oder eine realistischere, umsetzbare?
Sollen Staaten, wie Frankreich und Spanien dies fordern, selbst über den Weg entscheiden können, wie sie Schulden abbauen?
Der Corona-Wiederaufbaufonds (NGEU) und der EU-Haushalt wurden gemeinsam, also zentral beschlossen. Aber es gibt auch Raum für dezentrale Beschlüsse.
EU-Kommmissar
Den Großteil seiner Zeit als EU-Kommissar für Wirtschaft (seit Dezember 2019) hat der 67-jährige gebürtige Römer bisher mit der Bekämpfung der Folgen der Corona-Pandemie verbracht. Auf den Sozialemokraten warten in Brüssel gleich die nächsten Herausforderungen: Er muss einen Ausgleich finden zwischen den "frugalen" Staaten - wie Österreich - und den hochverschuldeten Ländern des europäischen Südens.
Dabei dürfte ihm sein ruhiges, kompromissbereites Wesen entgegenkommen. Der frühere Premier Italiens galt als einer der beliebtesten Poltiker des Landes, dennoch wurde er nach nur 15 Monaten Amtszeit bei den Wahlen 2018 geschlagen.
Sozialdemokrat
Gentiloni stammt aus altem italeinischen Adel, fand seine politische Heimat aber bei den Sozialdemokraten (Partito Democratico). Von seinen Studentenzeiten an politisch aktiv, war der studierte Politikwissenschaftler zunächst als Journalist tätig, dann als Redenschreiber für den Bürgermeister in Rom, ehe er 2001als Abgeordneter in italienische Parlament einzog. Im Kabinett von Ex-Premier Matteo Renzi diente Gentiloni als Außenminister, nach dem Abgang Renzis folgte er ihm als Regierungschef nach.
Wenn der Wiederaufbaufonds ein Erfolg wird – bei ihm wurden nationale Besonderheiten mit den allgemeinen europäischen Regeln und Anforderungen kombiniert – dann sollte man in Zukunft über einen differenzierten Ansatz nachdenken. Gegen Jahresmitte wird die Kommission ihren Vorschlag präsentieren, wie die Reform des Stabilitätspaktes aussehen soll.
Müssen dafür die Verträge geändert werden?
Ich würde nicht zu viel politisches Gewicht in die Waagschale werfen, um den Grenzwert der 60-Prozent-Schuldenquote zu ändern. Das war kein Vorschlag eines Nobelpreisträgers, sondern das war damals die durchschnittliche Schuldenquote jener zwölf Länder, die den Vertrag unterschrieben haben. Der Grenzwert hingegen von maximal drei Prozent Neuverschuldung des BIP hat sich als nützlich und durchsetzbar erwiesen.
Sollen bestimmte Schulden aus nationalen Budgets herausgerechnet werden? Sollen etwa öffentliche Ausgaben für „grüne“ Investitionen nicht als Schulden zählen?
Ich bin definitiv dafür, dass öffentliche Investitionen in bestimmte, strategische Übergangsaufgaben erleichtert werden. Denn wir brauchen nach unseren Schätzungen bis zum Jahr 2030 zusätzliche 520 Milliarden Euro, wenn wir die Klimaziele erreichen wollen. Natürlich soll der Großteil davon auf private Investitionen entfallen, aber wir müssen sie auch mit staatlichem Geld unterstützen.
Wir müssen also einen Weg finden, diese Investitionen anzustoßen und dabei mit den Fiskalregeln zu vereinbaren. Gibt es dafür einen Zauberstab? Wir müssen vielleicht kreativer sein.
Auf den Anleihemärkten haben die Zinsen bereits begonnen, anzuziehen. Befürchten Sie, dass dies die Schuldenländer wie etwa Griechenland, in neue Schwierigkeiten stürzen wird?
Natürlich ist die Entwicklung der Geldpolitik von spezieller Bedeutung für die Länder mit hohen Schulden. Aber wir befinden uns in Europa noch immer in einer negativen Zinslandschaft, und die Politik der EZB besteht darin, abzuwägen. Das sollte zunächst nicht zu Verunsicherung führen. Aber die Länder mit hohen Schuldenständen müssen den Pfad der Schuldenreduktion weitergehen. Die Möglichkeiten, auszugeben, was immer man hat, gab es in der Krise. Aber da sind wir nicht mehr. Wir müssen unsere Wirtschaft nun viel gezielter unterstützen, denn wir können unsere Schulden nicht noch weiter erhöhen.
Erwarten sie bald eine Änderung der Zinsen bei der EZB?
Diese Entscheidung trifft nur die EZB, nicht die Kommission.
Was können die Staaten tun, um die hohen Energiepreise zu mildern und kann die Kommission sie dabei unterstützen?
Wir haben schon im Oktober Vorschläge vorgelegt, was die Staaten tun können. Etwa Haushalte mit Sonder-Zahlungen unterstützen, Preisobergrenzen setzen, Steuern auf Energie senken. Weitere Maßnahmen werden derzeit diskutiert. Zum Beispiel der gemeinsame Einkauf und die gemeinsame Speicherung von Gas und der erweiterte Kauf von LNG-Flüssiggas.
Was würde es wirtschaftlich für die EU bedeuten, wenn es in der Ukraine zu Krieg kommt?
Die geopolitischen Spannungen sind ein anderes Level von Problemen als etwa Schwierigkeiten bei der Lieferkette oder der Inflation. Wenn es zu einer Eskalation in der Ukraine kommen würde, dann wären die Konsequenzen ganz andere. Geben wir also der Diplomatie eine Chance und bereiten wir uns als Europäer auf eine gemeinsame Antwort vor, wenn die Diplomatie erfolglos bleibt.
Hinweis: Das Interview fand gemeinsam mit fünf anderen Journalisten aus anderen EU-Ländern statt. Der KURIER war als einziges österreichisches Medium vertreten.
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