Von Ex-Kanzler Kurz und Ex-Finanzminister Blümel kam während der Corona-Krise immer wieder massive Kritik an der EU: Kurz sah einen "Impfstoffbasar" und Blümel hat sich beschwert, dass die EU zu spät und zu wenige Staatshilfen bewilligt. War da was dran?
Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass grosso modo alles funktioniert hat. Bei der Impfstoffverteilung war es so, dass die Staaten, im Gegensatz zum Vorschlag der Kommission, lange diskutiert haben, welche Vakzine sie wollen und zu welchem Preis. Und das hat die anfängliche Verzögerung hervorgerufen. Aber im Endeffekt waren die Impfstoffe dann da.
Und was die Beihilfen betrifft?
Die Kommissionsmitarbeiter haben an die 500 Beihilferegelungen getroffen. Aber es ist eben nicht so, dass ein Staat ein Ansuchen stellt und es dann zwei Stunden später mit Stempel aus der Kommission zurückkommt. Alles muss genau beurteilt werden. Insgesamt wurden Beihilfen in Höhe von 3.000 Milliarden Euro genehmigt. Diese 3 Billionen sind die Summe aus Mitteln der EU und den eigenen Mitteln der Staaten inkl. Garantien.
Wie hat man in Brüssel die Implosion der türkisen ÖVP mitverfolgt?
Regierungswechsel sind in der EU nichts Ungewöhnliches. Der vorletzte Wechsel in Wien fiel zeitlich mit dem Urteil des polnischen Verfassungsgerichtes zusammen, und das hat uns damals mehr beschäftigt. In den fünf Jahren, in denen ich als Kommissar bei EU-Außenministerräten dabei war, habe ich den Wechsel von über 60 EU-Außenministern miterlebt.
Jetzt haben wir den 750 Milliarden Euro schweren Coronaufbaufonds. Ist das der Einstieg zum ständigen gemeinsamen Schuldenmachen in der EU?
Das Next-Generation-EU-Instrument muss einen einmaligen Charakter haben, auch wenn sich die Umsetzungsmaßnahmen über Jahrzehnte erstrecken. Das war die Voraussetzung für die Zustimmung aller Mitgliedstaaten. Es gibt also einen klar definierten Beginn und ein ebenso klar definiertes Ende. Am Anfang stellen wir das Geld bereit, ab 2027 beginnen wir mit der Rückzahlung.
Es gibt Viele, die sich hier etwas Permanentes vorstellen. Aber meine Antwort ist: Jetzt müssen alle Mitgliedsstaaten beweisen, dass die bereitgestellten Mittel tatsächlich in Investitionen gegen den Klimawandel und in die Digitalisierung gesteckt werden, dass sie also einen nachhaltigen Mehrwert schaffen. Es geht jedoch nicht nur um Investitionen, sondern auch um Reformen. Kurz gesagt: um die nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft.
Um diese Schulden zu bedienen, braucht die EU jährlich 15 bis 16 Milliarden an eigenen Einnahmen. Die EU muss dafür neue Quellen für Einnahmen erschließen..
Den ersten von zwei Schritten haben wir bereits im Dezember 2021 gesetzt, der zweite kommt 2023. Diese neuen Eigenmittel aus dem erweiterten Emissionshandel, der Co2-Grenzausgleichsabgabe und globalen Konzernsteuern werden zwei Drittel des jährlichen Bedarfes abdecken.
Was, wenn man nicht auf die 15 Milliarden kommt?
Meine tiefe Überzeugung ist, dass die Staaten letztlich dem Eigenmittel-Paket zustimmen werden. Weil anders herum würde es bedeuten, dass die nationalen Beiträge im EU-Budget erhöht werden müssten.
Sie sind jetzt sei 12 Jahren Kommissar und haben schon einige Krisen der EU miterlebt. Welche war die bisher schwierigste? Brexit? Migration? Corona?
Die nachhaltigste Wirkung hatte sicher der Brexit, er hat eine bleibende Wunde hinterlassen. Das Vereinigte Königreich war die zweitgrößte Volkswirtschaft in der Union, auch gesellschaftspolitisch war die Mitgliedschaft Großbritanniens ein Vorteil für die Union. Mit den Briten war es nicht immer leicht, aber ihre Zugänge habe ich geschätzt. Auch außen- und sicherheitspolitisch war Großbritannien neben Frankreich ein Schlüsselspieler.
Alles andere waren und sind Krisen, die uns immer wieder fordern, die wir aber bewältigen.
Und trotzdem ist die Skepsis der Österreicher gegenüber der EU in den vergangenen Jahren laut Umfragen immer größer geworden. Aber austreten wollen wir auch nicht. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch? Meckern, es aber nicht ernst meinen?
Unsere Mentalität schwingt schon ein bisschen mit. Aber wichtig ist auch - und das ist ein ewiger Wunsch von uns auf europäischer Ebene Tätigen an die Regierungen: das tatsächliche Geschehen in der EU angemessen zu kommunizieren. Und nicht, wie es leider noch immer gang und gäbe ist, nämlich die Fehler zu europäisieren und die Erfolge zu nationalisieren. Das ist nicht in Ordnung!
Aber ich bin zuversichtlich, dass die aktuelle Regierung in Wien einen pragmatischeren Zugang hat. Kanzler Nehammer hat zuletzt in Brüssel gesagt, er sei ein glühender Europäer, was mich sehr freut. Gleichzeitig ist es wichtig, klarzustellen, auf welcher Ebene eine Entscheidung effizienter ist: auf der EU, der nationalen oder regionalen.
Ich denke, dass etwa die Gesundheitspolitik ein nationales Thema bleiben wird, weil die Gesundheitsversorgungen in den EU-Staaten zu unterschiedlich sind. Man kann natürlich europäisch kooperieren, wie wir es bei der Impfstoffversorgung erfolgreich gemacht haben.
Und was erwarten Sie sich diesbezüglich von der aktuellen Regierung?
Generell sollte immer die Frage im Vordergrund stehen: Was ist auf europäischer Ebene zu tun und zu entscheiden, um unseren Platz in der Welt abzusichern und damit auch jeweils die nationale Souveränität zu stärken?
Denn es ist eine verquere Auffassung, dass Zuständigkeiten, die der EU übertragen werden, a priori zu einem Abbau der nationalen Souveränität führen. Das Gegenteil ist der Fall! Österreich allein in der Welt wäre nirgendwo - aber als Teil einer größeren Familie, wo man Entscheidungen beeinflussen kann, ist es ein Faktor. Und damit stärkt man wiederum die nationale Souveränität und Relevanz. Ich habe den Eindruck, dass die aktuelle Regierung dies sehr sorgfältig und mit einer „positiven Nüchternheit“ handhabt. Man muss ja nicht immer die "Seele Europas" suchen.
Was meinen Sie damit?
Wir sind seit Jahrzehnten in unserem eigenen Gründungsmythos gefangen: Nie wieder Krieg in Europa. Das ist auch notwendig und richtig. Aber mittlerweile hat sich die Aufgabenstellung in der EU insofern gewandelt, dass wir international stärker werden müssen, um eben diesen Frieden und auch den europäischen Lebensstil mit all seinen Vorteilen für die BürgerInnen zu bewahren und zu verteidigen. Dies wird die größte Herausforderung der Zukunft sein.
Die größte Gefahr für die EU scheint gerade von innen zu kommen. Länder wie Ungarn und Polen beginnen die gemeinsamen Grundsätze der EU auszuhöhlen. Polen will sogar anfangen, EUGH-Urteile nicht mehr anzuerkennen. Da kann ja jeder Staat gleich machen, was er will…
Man muss ja kein Jubel-Europäer sein. Aber man sollte begreifen, dass dieses Europa mit seinem fundierten Rechts- und Wertesystem das Scharniergelenk ist, um unseren europäischen Lebensstil auch in Zukunft abzusichern. Dazu bedarf es einheitlicher Spielregeln, die jeder respektieren muss.
Ist das Zurückhalten von Geldern jetzt das letztmögliche Druckmittel gegen Budapest und Warschau?
Die Bereitstellung der Mittel aus dem EU-Wiederaufbaufonds ist geknüpft an die Bedingung, dass es nicht zu einer missbräuchlichen Verwendung der Gelder kommen kann. Und eine Grundvoraussetzung dafür ist die Rechtsstaatlichkeit. Es ist ein großer Erfolg, dass wir den Rechtsstaatsmechanismus, für den ich zuständig bin, verbindlich verankern konnten. Und wir wenden ihn ja bereits an!
Was ist mühsamer - die heimische oder die europäische Politik?
Das ist unser tägliches Brot, dass wir es mit 27 verschiedenen Interessenslagen zu tun haben. Aber auch in Österreich muss die Regierung damit umgehen, dass die neun Bundesländer eventuell die Dinge unterschiedlich sehen. Hier wie dort geht es letztlich darum, die Herausforderungen und die unterschiedlichen Bedürfnisse zu verstehen und Kompromisse zu schmieden.
Zugegebenermaßen, mit 27 ist es ein bisschen schwieriger als mit neun, wobei die 27 auch wesentlich heterogener sind als die Bundesländer. Für jeden, der auf europäischer Ebene tätig ist, ist es ein großer Lernprozess zu begreifen, dass man jetzt eben für 450 Millionen Menschen Verantwortung trägt und dass man damit auch in den globalen Verhandlungen eine andere Rolle spielt, als wenn man nur ein Land vertritt.
Können sie sich vorstellen wieder in die österreichische Politik zu gehen?
Nein! Also ich meine das nicht abwertend. Ich habe in den verbleibenden drei Jahren meines Mandats noch wichtige Projekte erfolgreich zu beenden und werde dann mit 67 in Pension gehen.
Was ist das Beste, das Ihnen in der Politik passiert ist?
In der Exekutive kann man, wenn man will, sehr viel gestalten und damit auch den Lebensstandard vieler Menschen verbessern. So habe ich es etwa durchgesetzt, dass beim rumänisch-bulgarischen 500 km langen Donauabschnitt eine zweite Brücke gebaut wurde. Das sind die ärmsten Regionen Europas und von dieser Verkehrsverbindung haben die Menschen dieser Region sehr profitiert, weil ihr Lebensstandard gehoben wurde.
Meine Motivation bis heute ist es alles zu tun, um den Menschen in ihrer jeweiligen Heimat eine Perspektive zu geben. Wir wissen, dass ungefähr 80 Prozent der Menschen dort leben, arbeiten und am Ende auch sterben wollen, wo sie geboren wurden. Das zu ermöglichen, ist, wie ich finde, eine noble und nie enden wollende Aufgabe.
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