Was läuft noch schief?
Ein zweites Problemfeld ist sicher der Arbeitsmarkt. Europa hat vor allem perspektivisch einen größeren Fachkräftemangel als andere Wirtschaftsräume. Das liegt an der demografischen Entwicklung, aber auch daran, dass in der EU im Durchschnitt nur 1.600 Stunden pro Jahr gearbeitet werden. In den USA sind es 100 Stunden mehr, von China ganz zu schweigen.
In Österreich fordert unter anderem die SPÖ eine 32-Stunden-Woche. Arbeitnehmer wünschen sich in Umfragen auch eher weniger als mehr Arbeitszeit. Welche Auswirkungen hätten denn weitere Arbeitszeitverkürzungen auf Europa?
Der Fachkräftemangel, der sich in den nächsten Jahren massiv beschleunigen wird, würde noch schärfer ausfallen. Wir hätten aufgrund der größeren Knappheit höhere Lohnsteigerungen, würden in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit vermutlich weiter zurückfallen und hätten Schwierigkeiten, in wichtigen Bereichen die Stellen überhaupt zu besetzen – ob Kinderbetreuung, Pflege oder Polizei. Und wir würden Industrie verlieren. Die kann dem Fachkräftemangel relativ leicht ausweichen: Indem sie abwandert.
Zuletzt haben nicht nur Industrievertreter, sondern auch Landwirte kritisiert, dass die EU zu bürokratisch sei. Aber sehen die meisten Unternehmen das wirklich so?
Regulierungen sind an sich nichts Schlechtes, denn sie geben einen verlässlichen Rahmen vor. Sie werden von Europas Unternehmen aber als überbordend wahrgenommen. Das zeigt auch unsere Analyse für die WKÖ. Sechs von zehn Unternehmen in der EU sagen, dass Regulierungen über ein vorteilhaftes Niveau hinausgehen und ihre langfristigen Investitionsentscheidungen hemmen.
Steht sich Europa unter den aktuellen Voraussetzungen vielleicht auch mit dem Green Deal selbst im Weg – weil die Umweltauflagen im internationalen Vergleich zu hoch sind?
Das Ziel des Green Deal, zu einer schnellen Dekarbonisierung der Wirtschaft zu kommen, ist richtig. Zweifelhaft sind der regulatorische Eingriff, etwa über die Taxonomie, und verschiedenste Förderinstrumenten. Die einfachere Alternative wäre ein einheitlicher CO2-Preis, an den sich die Unternehmen anpassen müssen. Die EU macht die Sache hier komplizierter als notwendig.
Die USA pumpen mit dem Inflation Reduction Act (IRA) 100 Milliarden US-Dollar in die Mikrochip-Industrie, E-Auto-Produktion oder Batterien. Braucht Europas Industrie eine vergleichbare Investitionsoffensive?
Ich wundere mich immer, dass der IRA als Gegenmodell zur europäischen Klimapolitik dargestellt wird. Europa verteuert nicht nur CO2, sondern subventioniert ja auch massiv. Sei es bei der Ansiedlung von Batterie- und Chipfabriken, der Stahlindustrie oder beim Verkauf von Elektroautos.
Wie sollte sich die EU denn zwischen den Machtblöcken China und USA positionieren, um ein relevanter Player zu bleiben?
Manche Vertreter plädieren hier für Äquidistanz. Das halte ich für Unfug. Im Zweifel stehen wir den USA aus sehr guten Gründen deutlich näher als China. Und prinzipiell gibt es drei Strategien: Diversifizierung, Diversifizierung, Diversifizierung. Volkswirtschaften wie Deutschland oder Österreich müssen nicht so stark auf China setzen, es gibt auch andere attraktive Absatz- und Beschaffungsmärkte. Die gilt es zu nutzen, ohne sich von China zu entkoppeln. Wir machen uns als Europäer auch immer etwas zu klein: Betrachtet man die Handelsanteile, ist China viel abhängiger von Europa, als Europa von China. Dieses Machtverhältnis sollten wir mit breiter Brust vortragen, die Chinesen sind sich dessen nämlich bewusst.
Apropos Abhängigkeit: Sie haben vor rund einem Jahr in einer Analyse geschrieben, der Westen hätte es nicht geschafft, Russland über die Sanktionen wirtschaftlich zu isolieren. Wie begründen Sie das?
Der Handel ist eingebrochen, aber bei Weitem nicht auf null. Erstens sind etwa landwirtschaftliche und pharmazeutische Produkte nicht sanktioniert. Zweitens haben wir einen Anstieg des Handels russischer Produkte über Drittmärkte wie die Türkei oder Usbekistan im hohen dreistelligen Prozentbereich gesehen. Das war nicht illegal. Aber, dritter Punkt, es hat auch illegale Umgehungen von Sanktionen gegeben.
Aber haben die Sanktionen nun dem Westen oder Russland stärker geschadet?
Bei Russlands vergleichsweise guten Wachstumszahlen könnte man meinen, dem Westen. Doch davon sollte man sich nicht blenden lassen. Russland hat auf eine Kriegswirtschaft umgestellt, die Produktion hochgefahren und wächst deshalb. Gleichzeitig ist Russland aber zunehmend vom Technologietransfer abgeschnitten, Fachkräfte und Spezialisten verlassen das Land. Die Innovationsfähigkeit Russlands wird darunter langfristig massiv leiden, auch wenn das den Kreml derzeit wohl nicht interessiert.
In der EU werden rechts- und linkspopulistische Strömungen, die die Globalisierung als Grundübel ausgemacht haben, immer stärker. Welche Auswirkungen hätte eine De-Globalisierung auf Europas Volkswirtschaften?
Europa hat so stark von der Globalisierung profitiert wie kaum eine andere Region. Man muss sich nur vor Augen führen, was das bedeuten würde, wenn wir sämtliche Waren, die wir konsumieren, selbst produzieren müssten – von Textilien bis zu Solarpaneelen. Das hätte massive Kostensteigerungen und Wohlstandsverluste zur Folge. Dessen muss sich jeder bewusst sein, der sich gegen Globalisierung ausspricht.
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