"Großes Damoklesschwert" über Penicillin-Produktion in Tirol
Die hohen Rohstoff- und Energiepreise könnten in der chemischen Industrie schon bald zu weiteren Produktionsdrosselungen und damit zu Versorgungslücken führen. Nachdem der Faserhersteller Lenzing bereits Produktionslinien am Standort Heiligenkreuz vorübergehend stillgelegt hat, schließt auch der Pharmakonzern Novartis einen solchen Schritt an seinem Tiroler Standort Kundl-Schaftenau nicht mehr aus.
„Wenn sich die Preissituation nicht entschärft, könnte es uns in eine Situation bringen, energieintensive Herstellverfahren einschränken zu müssen“, sagt Novartis-Standort-Geschäftsführer Mario Riesner anlässlich eines vom Fachverband der chemischen Industrie organisierten Werksbesuches des KURIER.
Die Pharma-Produktion ist sehr energieintensiv. Novartis verbraucht in Kundl-Schaftenau so viel Strom wie die Stadt Innsbruck. Für Strom und Gas musste das Unternehmen im Vorjahr zwischen 10 und 15 Mio. Euro ausgeben. „Wenn die Preise derart hoch bleiben, müssen wir bei konstantem Verbrauch für 2023 mit Kosten von 100 bis 120 Millionen Euro rechnen“, so Riesner.
Nicht die Ersten
Die hohen Energiepreise würden damit „wie ein großes Damoklesschwert über der Produktion“ hängen. Auf die Frage, ob dadurch die Fortsetzung von Europas letzter Antibiotika-Produktion trotz Förderzusage der Regierung wieder wackelt, weicht Riesner aus, meint aber: „Wir wären nicht das erste Unternehmen, das sein Produktportfolio korrigieren muss.“ Bekanntlich drohte Novartis mit dem Aus der Penicillin-Herstellung in Kundl, weil sie nicht mehr rentabel sei. Nach einer Förderzusage des Bundes entschied man sich 2020, eine neue Anlage zu errichten, die 2023 fertig sein soll.
Im Unterschied zu Lebensmittelherstellern können Arzneimittelhersteller die Preise nicht einfach an Kunden weitergeben. Apothekenpflichtige Medikamente wie Aspirin unterliegen einem Genehmigungsprozess mit der Sozialversicherung (Preisfestsetzungsverfahren, Anm.) Die Pharmabranche drängt daher auf die Möglichkeit der Inflationsanpassung bei Medikamenten – der KURIER berichtete. Novartis beschäftigt in Tirol insgesamt 4.500 Mitarbeitende, davon 800 in der Forschung und Entwicklung.
Der Schweizer Pharmariese stellt seinen zweitgrößten Standort außerhalb der Schweiz voll auf höherwertige biopharmazeutische Entwicklung und Produktion um So sollen weitere 75 Mio. Euro unter anderen in eine Pilotanlage für neue Verabreichungsformen wie Autoinjektionen und Pens fließen.
Ammoniak-Engpässe
Wie rasch gewinnorientierte Konzerne bei Verlagerungen sind, zeigt der Chemieriese BASF beim Ammoniak. Die wichtige Basis-Chemikalie wird für Kunststoffe, Düngemittel oder dem Diesel-Zusatz AdBlue benötigt, aber aus Preisgründen aktuell kaum noch in Europa hergestellt. „Wir haben drei Ammoniak-Werke in Europa, zwei davon stehen“, bestätigt BASF-Österreich-Chef Harald Pflanzl. Der Grund: Die Preise könnten nicht mehr an die Kunden weitergegeben werden.
Weil weniger Ammoniak verfügbar ist, gibt es erste AdBlue-Engpässe. Sollten die Energiepreise in Europa weiter so hoch bleiben, werden laut Pflanzl viele Produktionen nicht nur vorübergehend ins Nicht-EU-Ausland abwandern, sondern dauerhaft dortbleiben. Ein Dilemma, zumal 90 Prozent aller Industriebetriebe in Europa chemische Substanzen benötigen.
So wie der Tiroler Folienhersteller Coveris, der ebenfalls an eine Drosselung der energieintensiven Produktion denkt. „Es ist eine dramatische Situation für alle, in anderen Ländern wurden schon Produktionen zurückgefahren“, berichtet Firmenchef Peter Tillich. Durch die Verdoppelung der Stromkosten könne er gegen Mitbewerber aus Nicht-EU-Ländern nicht konkurrieren. Die Auftragslage habe bereits spürbar nachgelassen. „Das Sommerloch hat heuer noch nicht aufgehört.“
Um die Preisanstiege einzudämmen und damit die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Asien sicherzustellen, fordert der Fachverband der chemischen Industrie (FCIO) eine rasche Entkoppelung des Gaspreises vom Strompreis. „Er braucht dringend eine EU-weite Lösung“, sagt Verbandobmann Hubert Culik. Erste Ergebnisse erwartet er sich für den Energieministerrat diesen Freitag.
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