Ist Victoria's Secret noch zeitgemäß?
Donnerstagabend in New York City: Atemberaubend schöne Supermodels mit gestählten Körpern schweben in sündigen Dessous, Stilettos und mit strahlendem Lächeln über den Laufsteg. Alles wie immer beim jährlichen Schaulaufen der Victoria’s-Secret-Engel – dabei gibt es hinter den Kulissen der einst schillernden Wäschefirma gerade wenig zu lachen.
Trotz jährlichem TV-Spektakel mit internationaler Model-Elite brach der Umsatz im vergangenen Jahr um 14 Prozent ein, die Aktie ist im Keller, 20 Geschäfte müssen schließen. Noch schwerer als schleppende Verkäufe wiegen die Imageprobleme, wie die Marktforschungsfirma YouGov ermittelte: Jener Wert, der angibt, wie angesagt eine Marke gerade ist, fiel binnen zwei Jahren von 31 auf 23 Punkte. „Engel im Sturzflug“, titelten Branchenmagazine einhellig – zumindest wurden ihnen die Flügel kräftig gestutzt.
Veraltetes Bild
Ein Sturzflug mit Anlauf: Die Dessous-Marke, die in den 80ern vom Geschäftsmann Les Wexner (80) übernommen und schon bald zum Inbegriff für aufregende Lingerie wurde, rauscht seit einigen Jahren konsequent am Zeitgeist vorbei. Sicher, der aktuelle „Athleisure“-Trend zu sportlich-schlichter Wäsche spielte dem auf Spitzen und Rüschen spezialisierten Label nicht in die Hände. Vor allem aber verabsäumte man, sich einem neuen Lebensgefühl anzupassen. Während die Body-Positivity-Bewegung auf Instagram ihren Siegeszug feierte, Plus-Size-Models Magazincover eroberten und #MeToo ein neues Selbstbewusstsein schuf, setzte man bei VS weiterhin auf das Bild der makellosen Überdrüberfrau – unerreichbar, wie Engel eben.
„Macht ihr die Werbung eigentlich für Männer oder für Frauen?“, schnaubte eine wütende Kundin kürzlich auf Facebook und brachte damit den Paradigmenwechsel in der Wäschebranche auf den Punkt. Viel zu lange seien Dessous aus dem Blickwinkel der Männer betrachtet worden, sagt Astrid Bleier, Medienwissenschaftlerin und Chefin des Unterwäschegeschäfts amour fou in Wien. „Frauen kaufen Wäsche nicht für einen Mann, sondern für sich selbst. Lange haben Werbeagenturen erzählt, dass sich etwas besser verkauft, wenn es ein Supermodel anhat. Frauen haben keine Lust mehr auf diese perfekten Hochglanz-Werbungen. Sie sehnen sich nach Natürlichkeit, nach Authentizität.“
Beispielgebend ist die rasante Verbreitung der bügellosen Bralettes, quasi die stoffgewordene Antithese zum Push-up-BH, den VS einst populär gemacht hatte.
Viele kleinere Marken haben diese Sehnsucht höchst erfolgreich zur Firmenphilosophie gemacht, allen voran Aerie: Das US-Label verzichtet in seinen Werbekampagnen auf Retusche und engagiert Models in allen Größen und Formen. Zuletzt kooperierte man sogar mit der National Eating Disorders Association, einer amerikanischen Organisation, die über Essstörungen aufklärt.
Ein Bruch mit Erwartungen – genau das habe man bei VS verabsäumt, konstatiert der Hamburger Werbe-Stratege Branko Presic. „Authentizität macht den Menschen gerade viel Spaß, das Raue, das Menschliche, Nahbarkeit. Niemand will mehr Models sehen, die hungern müssen. Das ist auf die Spitze getriebene Künstlichkeit.“ Er stößt sich an der „altmodischen Darstellung der Frau“: in Unterwäsche und High Heels, vermeintlich schmeichelhaft als Engel verkleidet. „Das konnte man eine Zeit lang so machen, nicht aber, wenn einer Gesellschaft gerade bewusst wird, dass man Frauen stärken muss.“
Frauen wollen sich in der Werbung wiederfinden, statt ein unerreichbares Ideal vorgehalten zu bekommen. Die neuen Engel, so scheint es, tragen weder Flügel noch Stilettos, sondern Dellen, Falten und Rundungen.
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