Marcel Hirscher klatschte verhalten aber anerkennend in die Hände, als dieser 19-jährige Norweger ihn hier in Schladming um 18 Hundertstel geschlagen hatte. Ein neuer Star war am 28. Jänner 2014 geboren, der sich vor ihnen im Zielraum in den Schnee legte und von 50.000 Fans feiern ließ. Mario Matt hatte gerade als Halbzeitführender eingefädelt. Henrik Kristoffersen war außer sich. Der Drittplatzierte Felix Neureuther zog symbolisch den Hut, Arnold Schwarzenegger staunte im Publikum.
Es war der Anfang einer neuen Zeitrechnung. Vor Kristoffersen hatte Norwegen zehn Jahre kein Podium in den technischen Disziplinen erreicht. Die Konzentration lag auf dem erfolgreichen Speed-Team... Und dann kam Kristoffersen. So neu, so entschlossen – und so anders als die nahbaren Stars Aksel Lund Svindal und Kjetil Jansrud.
Zehn Jahre – und viele Höhen und Tiefen – später fährt Kristoffersen immer noch im Spitzenfeld. „Er ist erst 29 und schon so lang so gut“, sagt mit dem Ex-ÖSV-Athleten Philipp Schörghofer einer, der oft gegen ihn angetreten ist. „Man muss sich das vor Augen halten. Er wird mit einem schlechten Tag Sechster. Und das seit Jahren.“
Kristoffersen: "Der Druck kommt von allen Seiten"
„Es ist das Eine, zwei, drei Saisonen der Beste zu sein. Aber so lange, das fordert seine Opfer“, sagt Kristoffersen zum KURIER. Körperlich sei er bis auf ein paar Kleinigkeiten ganz gut durch seine bisherige Karriere gekommen. „Mental ist es wahrscheinlich die größere Herausforderung“, gibt er zu. „Alle erwarten, dass du besser und besser wirst, die Gegner wollen dich besiegen. Der Druck kommt von allen Seiten.“
Zuletzt in Kitzbühel rutschte Kristoffersen buchstäblich an einer guten Leistung vorbei. An der Materialabstimmung gibt es mehr zu arbeiten als gedacht. Doch schnell nach dem Rennen war der erste Frust gedämpft. Mit Sohn Emil saß Kristoffersen auf der Tribüne und konnte sogar lächeln. Die Familie gibt ihm Halt, erst vor wenigen Tagen verlobte er sich mit Freundin Tonje Barkenes. „Dank Emil bin ich entspannter geworden“, sagt Kristoffersen.
Nicht viele Freunde
Als entspannt war der Norweger nie bekannt. Eher für Wutausbrüche, weggeworfene Stöcke, beleidigtes Wegstapfen. Am Renntag würde ihn Schörghofer nicht als „sympathisch“ bezeichnen: „Wir anderen haben geredet, da rennt auch mal der Schmäh. Aber Henrik war da extrem angespannt.“ Dass er sich damit nicht viele Freunde im Weltcupzirkus gemacht hat, weiß Kristoffersen. Es ist ihm aber egal, betont er. „Ich bin nicht wie die anderen.“
Ehrgeiz, Opferbereitschaft, harte Arbeit. Das ist Kristoffersens Rezept für den Erfolg. Er sei kein großes Ski-Talent gewesen: „Bei mir ging nie etwas von allein“, sagte er im Interview dem Schweizer Tagesanzeiger. „Ich weiß, dass ich härter arbeiten muss als alle anderen“. Dass er das tut, bestätigt auch Schörghofer, der ihn dabei oft beobachten konnte: „Im Konditionstraining, beim Skitraining und beim Skitesten. Er gibt überall alles.“
Hinzu kommt eine gehörige Portion Egoismus. „Ich muss egiostisch denken, das ist ein Einzelsport“, sagt er. Sein Credo: Ein Siegläufer sollte bessere Konditionen im Verband haben als schwächere Athleten. Das und sein Deal mit Red Bull als Kopfsponsor kam bei den Verantwortlichen aber nicht gut an. Es folgte ein jahrelanger Streit.
Kristoffersen stützt sich im Training auf ein Privatteam außerhalb des Verband. Eine tragende Rolle im Team spielt Vater Lars Kristoffersen, der Henrik seit Kindesalter sportlich formt – und ihm dabei viel abverlangte. Trainings- und Reisekosten teilen sich die Familie, der Verband und die Hirscher-Skifirma Van Deer.
Hirscher: Vom Erzfeind zum Kollegen
Dass Kristoffersen jetzt unter den Fittichen seines einst größten Konkurrenten fährt, hat anfangs viele überrascht. „Die Konkurrenz war rein sportlich. Aber persönlich haben wir uns immer geschätzt“, sagt Kristoffersen. Er sei mit Ingemar Stenmark einer der beiden größten Skifahrer der Geschichte. „Ich habe ihn immer bewundert.“
Als der Österreicher 2019 zurücktrat, erwartete die Skiwelt, dass der zuvor oft zweitplatzierte Kristoffersen nun alles gewinnen würde – doch es wurden „nur“ drei Weltcupsiege in der Folgesaison – und zwei kleine Kristallkugeln. Viele vermuteten einen mentalen Einbruch, weil der große Konkurrent weggefallen ist.
Kristoffersen selbst ortet die Gründe anderswo: „Die hohen Standards, die Marcel gesetzt hatte, waren auf einmal wieder weg. Die Kurssetzung der österreichischen Coaches wurde einfacher. Dadurch konnten auch technisch weniger solide Skifahrer schneller fahren. Für mich war das ein Nachteil.“
Der österreichische Mentalcoach Wolfgang Seidl kann sich vorstellen, dass Kristoffersen im Kopf viel durchgemacht hat, etwa den jahrelangen mühsamen Kampf mit dem norwegischen Skiverband: "So etwas kann einen Sportler aus mentaler Sicht viel Energie kosten, die dann in den entscheidenden Rennmomenten fehlt. Im Verlgeich zu Hirscher fehlte ihm lange dieses perfekte Umfeld, wo er sich voll auf den Skisport konzentrieren konnte."
Ein neuer Konkurrent kommt aus dem norwegischen Team. Atle Lie McGrath ist 23 und aktuell der beste norwegische Slalomfahrer. Auch wenn er und Kristoffersen nicht wirklich Teamkollegen im eigentlichen Sinn sind, hat McGrath viel Wertschätzung für den Mann mit 30 Weltcupsiegen übrig.
An das Rennen vor 10 Jahren in Schladming, das er als Schüler im Fernsehen verfolgte, kann er sich noch gut erinnern. „Henrik war der Start er modernen Zeit des norwegischen Technik-Teams. Er war es, der es zum Leben erweckt hat. Kristoffersen habe Athleten wie ihm den Weg geebnet. „Ich hoffe, er weiß, was seine Leistungen uns bedeuten.“
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