Als Marcel Hirscher im letzten Sommer nicht wusste, wie es mit ihm weiter gehen soll, da ließ er sich von Videos seiner besten Läufe inspirieren. „Die habe ich mir auf youtube angesehen. Und danach habe ich mir gedacht: ,Es wäre schade, jetzt aufzuhören“, erzählte Marcel Hirscher im Juli 2018. „Ich habe noch nicht den Schneid und die Courage zu sagen: ,Das war’s jetzt, Auf Wiedersehen.’“
Ein Jahr später könnte sich der Salzburger Skistar stundenlang die spektakulärsten Sequenzen seiner Laufbahn zu Gemüte führen, allein dieser Aha-Effekt vom vergangenen Sommer würde sich nicht mehr einstellen. Mit 30 Jahren ist Marcel Hirscher jetzt an dem Punkt seiner Karriere angelangt, über den er sich schon seit längerem den Kopf zerbrochen hat: Den Schlusspunkt.
Am Mittwoch wird Marcel Hirscher in Salzburg offiziell seinen Rücktritt verkünden. Am Freitag ließ der 30-Jährige die Einladungen für die Pressekonferenz im Veranstaltungszentrum Gusswerk verschicken, das Motto der Abendveranstaltung: Rückblick, Einblick, Ausblick.
Von Kindesbeinen an wird Marcel von seinem Vater Ferdinand (re.), einem staatlich geprüften Ski- und Snowboardlehrer, betreut. Im Trainer-Team seines Sohnes gilt er als eine Art "Supervisor", der auch bei Video-Analysen dabei ist. Der um sieben Jahre jüngere Bruder Leon (Mi.) wollte in die Fußstapfen seines Bruders treten, eine schwere Hüftkrankheit bremste ihn aus.
Stets an seiner Seite: Mit Laura Moisl war Marcel zehn Jahre liiert, bis sich das Paar im vergangenen Sommer endlich dazu entschloss, eine Ehe zu schließen.
Bereits in der Jugend ließ der 173 cm große Fahrer sein Talent aufblitzen. Als 14-Jähriger wurde er dreifacher österreichischer Schülermeister, als 15-Jähriger kam er nach Erreichen des Alterslimits bei FIS-Rennen zum Einsatz.
In Lenzerheide kam er damals - zum Start war er als Juniorenweltmeister berechtigt - als Drittletzter auf Rang 24 mit einem Rückstand von 3,17 Sekunden auf Sieger Aksel Lund Svindal.
Seinen Durchbruch im Weltcup erlebte Marcel Hirscher im olympischen Winter 2009/2010. In Val d'Isère carvte er in seiner Paradedisziplin Riesenslalom zu seinem ersten Weltcup-Sieg.
Der Salzburger triumphierte im vergangenen Dezember in Alta Badia erstmals auch im Parallel-Riesentorlauf und egalisierte mit dem 62. Weltcupsieg die ÖSV-Bestmarke der österreichischen Jahrhundert-Sportlerin Annemarie Moser-Pröll. Inzwischen hält er bei 67.
Auch bei den Weltmeisterschaften hagelt es Medaillen für Hirscher. 2013 gewann er in Schladming bei seinem ersten Antreten, dem Mannschaftsbewerb, die Goldmedaille mit dem österreichischen Team. Im Riesenslalom gewann er seine erste WM-Einzelmedaille, eine silberne.
Im vergangenen Oktober wurde Hirscher zum vierten Mal von den Mitgliedern der Internationalen Ski-Journalisten-Vereinigung (AIJS) zum Alpinskisportler des Jahres gewählt. Damit schloss er zum bis dato allein führenden Schweizer Pirmin Zurbriggen auf.
Im vergangenen Jahr wurde der Salzburger von der Zeitung L’Equipe zum "Champion der Champions 2018" bzw. zum Weltsportler des Jahres gekürt. Hirscher ist der erste Skifahrer überhaupt, der die prestigeträchtige Trophäe in Empfang nehmen durfte. Diese Ehre wurde vor ihm keinem Österreicher zuteil.
Großes Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich erhielt Hirscher 2016. Den Orden überreichte ihm der damalige Bundeskanzler Werner Faymann.
Die große Leere
Noch vor wenigen Wochen waren Trainer, Kollegen und Wegbegleiter optimistisch gewesen, dass der achtfache Gesamtweltcupsieger doch noch eine Saison anhängen würde. Erste Zweifel kamen schließlich auf, als Hirscher kurzfristig sein alljährliches Sommergespräch platzen ließ und sich weitere Bedenkzeit erbat. Über den Sommer scheint in ihm endgültig der Entschluss gereift zu sein, ab sofort einen weiten Bogen um den Skiweltcup zu machen.
Rücktrittsgedanken hatten Hirscher freilich schon länger begleitet. Auch wenn beim Seriensieger oft vieles so einfach und traumwandlerisch ausgesehen hat, die Rolle als Skiheld der Nation und das Leben im Rampenlicht haben viel Kraft gekostet. „Nach der Saison kommt immer die große Leere“, hat der Salzburger einmal im KURIER-Interview erzählt.
Schon nach dem sehnsüchtig erwarteten Gewinn der Olympischen Goldmedaille 2018 in Pyeongchang, der letzten Trophäe, die in seiner Sammlung noch gefehlt hatte, hatte Hirscher sich ernsthaft die Sinnfrage gestellt. Die Geburt seines Sohnes, der im Herbst ein Jahr alt wird, hat die Entscheidung zum Rücktritt weiter reifen lassen. „Ich bin jetzt nicht mehr nur der Skisportler und die Person der Öffentlichkeit, sondern auch Familienvater. Das möchte ich sehr ernst nehmen.“
Im letzten Winter war Marcel Hirscher dieser Spagat zwischen Familienvater und Siegläufer exzellent gelungen, wie WM-Gold im Slalom und der achte Gesamtweltcupsieg in Folge zeigten. Ein würdigeres Ende einer Karriere kann ein Champion wie er gar nicht haben. „Die Gefahr ist riesengroß, dass man den richtigen Zeitpunkt zum Aufhören verpasst“, hatte er letzten Sommer gemeint und schon damals versichert, seinem Bauchgefühl vertrauen zu wollen. „Es soll leicht gehen und eine Freude machen. Schlussendlich merkst du das schnell, wenn du nicht mehr bereit bist, dich zu schinden.“
Als Hirscher 2018 zu seinem bislang letzten Sommergespräch ins Schloss Fuschl gebeten hatte, waren bereits knapp 100 Reporter ins Salzburger Land gekommen. Am Mittwoch wird das Medieninteresse alle Dimensionen sprengen: Mehrere Sender, darunter ORFund Servus TV, übertragen Hirschers Abschied live zur Prime Time, sogar CNN und die New York Times schicken ihre Korrespondenten – bei den meisten seiner 67 Weltcupsiege hat nicht so ein Rummel um Marcel Hirscher geherrscht.
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