69. Vierschanzentournee: So viele Fragezeichen wie heuer gab's noch nie
Waren das Zeiten, als sich bei der Vierschanzentournee alles noch um V-Stil, Telemark und Haltungsnoten gedreht hat. Wenn heute in Oberstdorf die 69. Auflage des Schanzenklassikers beginnt (16.30 Uhr, live ORFeins), dann geht’s weniger darum, welcher Skispringer die beste Form und die größte Konstanz hat, sondern vielmehr:
Wer schafft es unbeschadet und ohne Covid-Infektion bis nach Bischofshofen?
Dass die heurige Tournee ganz im Zeichen, oder besser: fest im Würgegriff des Coronavirus steht, wurde schon am ersten Tag deutlich. Über die gesamte polnische Mannschaft wurde in Oberstdorf ein Flugverbot verhängt, nachdem ein Athlet (Klemens Muranka) beim obligaten Medizincheck positiv auf Covid-19 getestet worden war.
Damit musste neben Titelverteidiger Dawid Kubacki auch Kamil Stoch vorerst am Boden bleiben, der 2017/’18 als erst zweiter Athlet der Historie bei einer Tournee alle Springen gewinnen konnte. Die gesamte polnische Mannschaft war bei der Qualifikation am Montag nicht am Start.
Nach dem großen Schock folgte das große Chaos: Bei einem zweiten Test am Montagabend war Klemens Muranka dann plötzlich negativ, weshalb das polnische Team zurecht Protest gegen das Startverbot einlegte. Es folgte am Dienstag ein dritter Test von Muranka und der gesamten Mannschaft. Nachdem kein positives Ergebnis vorlag, dürfen die Polen nun doch am Dienstag beim ersten Bewerb in Oberstdorf starten.
Welche Auswirkungen dieses Chaos auf die polnischen Springer hat, bleibt abzuwarten. Es ist so oder so eine Vierschanzentournee mit vielen Fragezeichen.
Wie sehr wird diese Vierschanzentournee durch die Corona-Problematik beeinflusst oder gar verfälscht?
Das Beispiel der Polen zeigt, wie schnell in Zeiten wie diesen eine ganze Mannschaft aus der Bahn geworfen werden kann. Selbst wenn nur ein Sportler positiv getestet wurde, gilt das Motto: Mitgehangen, mitgefangen. Es ist zu befürchten, dass es im Laufe der Tournee noch zu weiteren Covid-19-Fällen im internationalen Adlerhorst kommen wird und die sportlichen Entscheidungen nicht nur am Schanzentisch sondern auch im Testlabor fallen.
Gibt es einen Topfavoriten?
Klares Ja. Halvor Egner Granerud ist der Mann, den es bei dieser Tournee zu schlagen gilt. Der Norweger hat die letzten fünf Weltcupspringen gewonnen und schwebt gerade in anderen Sphären.
Granerud ist eines dieser Ufos, die im Skispringen immer wieder auftauchen – ein unerklärliches Flugobjekt. In der letzten Saison hatte der 24-Jährige gerade einmal acht Weltcuppunkte gesammelt, über den Sommer ist er plötzlich zum Überflieger mutiert. „Er fühlt sich gerade unbesiegbar und hat einen Flow“, sagt ÖSV-Chefcoach Andreas Widhölzl. Die Tournee-Geschichte lehrt freilich, dass jene, die als große Favoriten nach Oberstdorf kommen, dann oft enttäuscht aus Bischofshofen abreisen.
Wer sind die größten Herausforderer?
Neben Seriensieger Granerud hat nur der Deutsche Markus Eisenbichler in dieser Saison im Weltcup gewinnen können. Neben den Polen Kubacki und Stoch sind Eisenbichler und sein Landsmann und Skiflugweltmeister Karl Geiger die größten Herausforderer. Die Österreicher, mit 16 Tourneegesamtsiegen die Nummer eins der Bestenliste, befinden sind aktuell nur in der Lauerposition. „Wir haben Wahnsinnspotenzial in unserer Mannschaft“, meint aber Andreas Widhölzl.
Auf wem ruhen die österreichischen Hoffnungen?
Nach der Papierform ist Daniel Huber aktuell der Österreicher mit den größten Perspektiven. Der 27-Jährige war als einziger ÖSV-Springer in diesem Winter schon auf dem Stockerl. Dass er als Leader in die Tournee geht, stört Huber keineswegs. „Die Rolle ist ungewöhnlich, aber ich fühle mich damit wohl.“
Wie fit ist Stefan Kraft?
Der Gesamtweltcupsieger nennt sich selbst nicht von ungefähr eine „Wundertüte.“ Tatsächlich kann keiner abschätzen, wie Stefan Kraft mit seinen chronischen, hartnäckigen Rückenproblemen durch diese Tournee kommt. Dass der 27-Jährige die Fähigkeiten besitzt, die Tournee sogar zu gewinnen, ist unbestritten. Die Frage ist, ob sein Körper dem Stress mit den vielen Sprüngen und den Reisen im Auto auch gewachsen ist. „Mein Skispringen ist nicht schlechter geworden“, versichert Kraft.
Wie verlief die Qualifikation in Oberstdorf?
In Anbetracht der Abwesenheit der polnischen Athleten war es für die Österreicher nur ein Katzensprung ins Starterfeld der besten 50. Alle sieben ÖSV-Adler qualifizierten sich für den ersten Wettkampf. Bei widrigen Bedingungen gewann Philipp Aschenwald überraschend die Qualifikation. Auf den Bewerb hat das Ergebnis freilich keine Auswirkungen: Die K.o.-Duelle fallen in Oberstdorf aus, weil die polnischen Springer wieder mit dabei sind.
Wie ist die Corona-Situation im ÖSV-Lager?
Die ÖSV-Adler haben einen Grad der Durchseuchung erreicht, die sich viele Gesellschaften wünschen. Von den sieben Tourneespringern war nur Markus Schiffner noch nicht infiziert. „Wir haben die Herdenimmunität erreicht“, schmunzelt Chefcoach Widhölzl, der ebenfalls schon eine Corona-Infektion hinter sich hat.
Ein Polen-Schicksal dürfte den Österreichern deshalb selbst im Falle eines positiven Tests während der Tournee erspart bleiben. Dennoch geht man beim ÖSV auf Nummer sicher und hat alle Teammitglieder nur in Einzelzimmern untergebracht. "Wir tragen auch beim Essen und bei allen Besprechungen einen Mundnasenschutz", sagt Andreas Widhölzl.
Was macht eigentlich Gregor Schlierenzauer?
Nachdem für den Rekordsieger (53 Weltcuperfolge) im siebenköpfigen ÖSV-Tourneeaufgebot kein Platz war, nützte er die Zeit für die Teilnahme an den Kontinentalcupbewerben in Engelberg. Einem dritten Platz am Sonntag ließ Schlierenzauer gestern einen fünften Rang folgen. Damit war er beim Sieg seines Kollegen Maximilian Steiner drittbester Österreicher. Gregor Schlierenzauer wird am Bergisel zum Tourneeteam stoßen, dabei steht für den 30-Jährigen viel auf dem Spiel: Für Schlierenzauer geht’s um die Rückkehr ins Weltcupteam und damit auch um ein Ticket für die WM in Oberstdorf.
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