Wie ukrainische Sportler dem Krieg trotzen

Wie ukrainische Sportler dem Krieg trotzen
Der sportliche Alltag läuft zwischen Raketenangriffen und Bodenkämpfen weiter. Wie, erklärt Ukraines erfolgreichster Eishockeyspieler Sergei Babinets.

Plötzlich umhüllt Dunkelheit die Spieler in der Eishockey-Arena in Kiew. Eine Sirene ertönt. Blackout. Bombenalarm. Die Athleten der Erstliga-Teams Sokil Kiew und Dnipro Kherson stapfen in ihren Schlittschuhen gemeinsam mit Trainer, Betreuer und Schiedsrichter in einen Luftschutzbunker 30 Meter von der Eisfläche entfernt.

Während die Spieler sich aus ihren Schuhen und Helmen schälen, stellt jemand Wasser für Tee auf. „Wir sitzen im Bunker auf Holzbänken, beschimpfen die Russen und hoffen, dass die Sirene keine Bombe ist. Dann beten wir, dass niemand verletzt wird.“ So beschreibt Profispieler Sergei Babinets Tage später im Zoom-Interview ein Eishockey-Wochenende in der Ukraine. Nicht zum ersten Mal verbrachte er mehr Zeit unter dem Eis als darauf.

Ukrainian Ice Hockey Player Sergei Babinets/Sergei Babinets/Sergei Babynets

Zwischen Raketenangriffen und Bodenkämpfen bahnte sich der Sport seit Sommer 2022 seinen Weg zurück ans Tageslicht. Zuerst wurden nationale Meisterschaften im Fußball wieder aufgenommen, danach im Eishockey. Die meisten Sportarten weichen jedoch ins Ausland aus. Eishockey ist der einzige Wintersport, der regelmäßig Bewerbe im Land durchführt. Rund 150 registrierte Profis – aufgeteilt auf sechs statt der üblichen acht Teams – absolvierten in dieser Saison bereits 80 Spiele in der höchsten Liga, der Ukrainian Hockey League.

Babinets ist an die neue Routine gewöhnt. Nach zwei Stunden im Bunker stürmt er mit den anderen wieder übers Eis und spielt das Match zu Ende. Ein Lebenszeichen an die Welt.

Das macht auch Präsident Wolodymyr Selenskij mit plakativen Bildern, wie jene, die er an einem Jänner-Wochenende auf Instagram teilte: Fechter in einem zerstörten Turnsaal; eine Bogenschützin und eine Turnerin vor zerbombten Häusern; Judo- oder Box-Training inmitten von Schutt und Asche.

Babinets spielt die Situation herunter: „Normales Leben, mit kleinen Einschränkungen.“

Das Projekt:
Der ukrainische Fotograf Nikolay Synelnykov möchte mit Bildern wie jenem der Fechter zur Unterstützung ukrainischer Athleten aufrufen und für einen Olympia-Boykott Russlands werben. Nähere Infos hier.

Wie ukrainische Sportler dem Krieg trotzen

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Wie ukrainische Sportler dem Krieg trotzen

Ein Bier nach Spielende

In der Hauptstadt Kiew, wo Sergei Babinets geboren wurde, läuft rund sechs Stunden am Tag Strom. In dieser Zeit wird gekocht, Wäsche gewaschen oder ein Online-Interview durchgeführt. Aufgrund massiver Bombardierungen fällt Elektrizität auch ganztägig aus. Einige Restaurants, Cafés und andere Einrichtungen arbeiten mit Generatoren und stellen den Menschen Strom zum Aufladen ihrer Handys zur Verfügung. In einer der offenen Bars gönnt sich Babinets nach dem Spiel ein Bier. Es gibt noch soziales Leben im Kriegsgebiet – zumindest bis 22 Uhr. Danach herrscht Ausgangssperre bis fünf Uhr morgens.

Wie ukrainische Sportler dem Krieg trotzen

Seit seinem 469. Karriere-Tor im Dezember ist Sergei Babinets Topscorer der ukrainischen Eishockey-Geschichte. Vergangene Saison beendete der 35-Jährige seine Karriere wegen einer Knieverletzung. Dann brach der Krieg aus. „Wir hatten kaum Spieler. Die Legionäre konnten nicht mehr einreisen. Einige Athleten, sowie 75 Prozent der Eishockey-Nationalspieler flüchteten, um im Ausland ihre Karriere fortzusetzen. Ein großer Teil ging jedoch an die Front.“

Mehr als 230 ukrainische Spitzensportler und Trainer starben bereits bei der Verteidigung ihres Heimatlandes oder als Zivilisten (siehe rechts). Doppelt so viele Athleten wie im österreichischen Ski-Kader sind.

Fünf Namen stellvertretend für mehr als 230 verstorbene Athleten und Trainer:

Alina Peregudova
Gewichtheberin, U-17-Staatsmeister, Alter 14

Maxim Kagal
Kampfsportler, Kickboxweltmeister, Alter 30

Kateryna Diachenko
Turnerin, galt als großes Talent in der Rhythmischen Sportgymnastik, Alter 11

Dmytro Sydoruk
Bogenschütze und Nationaltrainer, Silber  Invictus Games,  Alter 39

Wolodymyr Androschuk
Zehnkämpfer, U-20-Staatsmeister, Alter 22

Babinets ging nicht zu den Streitkräften, sondern gab sein Comeback auf dem Eis. „Jetzt bin ich Spieler und Manager des U-18- und U-20-Nationalteams.“ Solange es geht, möchte er sein Land auf friedliche Weise unterstützen. „Ich weiß nicht, was morgen sein wird. Vielleicht werde ich eine Waffe anstelle meines Eishockeyschlägers in Händen halten.“

Die Zukunft des Sports

Jeden Morgen führt sein Weg nach dem Training direkt ins Büro des Eishockeyverbandes in Kiew. Dort hilft er bei einem Projekt mit, das junge Spieler samt ihren Müttern und Geschwistern aus der Heimat bringt. „Wir fingen sofort an, alle Bekannten, sowie Spieler, Vereine, Verbände und Schulen in Europa und Amerika anzurufen: ’Nehmt diesen Spieler, kümmert euch um diese Familie!’ Dann haben wir Busse, Tickets, Geld, Unterkünfte und Equipment organisiert. Sie sind die Zukunft unseres Sports.“

1.000 Spieler soll er auf diesem Weg in Sicherheit gebracht haben, darunter junge Athletinnen. Für Frauen ist die Ausreise jederzeit möglich. 18- bis 60-jährige ukrainische Männer dürfen seit 24. Februar 2022 nur mit speziellen Dokumenten über die Grenze – etwa: Nachweis eines Vollzeitstudiums im Ausland, als alleinerziehender Vater oder mit einer Sonder-Genehmigung für internationale Wettbewerbe. Diese erhielt beispielsweise Biathlet Dmytro Pidrutschnji. Zu Kriegsbeginn wurde er in die Nationalgarde eingezogen, nach drei Monaten vom Militärdienst freigestellt – um die Ukraine unter anderem bei der am Sonntag zu Ende gegangenen WM in Oberhof zu repräsentieren. Dort überraschte er mit einem sensationellen fünften Rang im Sprint.

Der Präsident des ukrainischen Eishockeyverbandes Georgii Zubko hält  mit seinen Spielern im Ausland Kontakt. „Wir wissen, dass wir eine ganze Generation des ukrainischen Eishockeys verlieren könnten. Wir haben bereits eine Saison verloren, weil neue Buben und Mädchen nicht zum Sport gekommen sind. All das wird in zehn Jahren Konsequenzen haben.“ Ein weiteres Problem sei die Finanzierung der Nationalteams und der Meisterschaften. Fast alle Sponsoren sind abgesprungen. Vor dem Krieg fehlte es an Infrastruktur und Geld, jetzt steht der Sport laut Zubko „am Rande des Überlebens“.
 

Eine Bombe ins Herz

Der finanzielle Schaden an der Infrastruktur im Sport ist noch nicht abschätzbar. Laut Selenskij wurden seither 343 Sportanlagen zerstört, darunter fünf Eishockeyhallen: die Donezker „Druschba“, die Hallen in Mariupol und Melitopol, der Eispalast in Siverskodonetsk und die L’odova Arena Altair.

Babinets feierte zwei seiner sieben Meistertitel in Altair. In der Nacht auf den 2. Jänner feuerte Russland eine Rakete in das Herz der kultigen Arena. „Sie zerstörten einen wichtigen Teil meines Lebens und meiner Geschichte.“ In 30 Hallen kann aktuell noch gespielt werden.

Sonntagabend stand für Sergei Babinets das letzte Match in der regulären Saison an. Als er im Interview gerade darüber sprechen will, gehen im Verbandsbüro in Kiew wieder einmal alle Lichter aus.

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