Wolff: "Man wird nicht in vier Monaten vom Weltmeister zum Deppen"
Gespräche mit Toto Wolff verlaufen stets nach dem gleichen Schema. Der 50-jährige Teamchef von Mercedes plaudert drauflos und sorgt für Lacher, nur um dann kurz innezuhalten und klarzustellen: „Das war aber jetzt inoffiziell!“ Ganz offiziell sprach der 50-jährige Wiener vor dem Formel-1-Rennen in Spielberg am Sonntag (15 Uhr) über ...
... Entwicklungsfehler:
Wir haben im Herbst 2021 gesehen, dass wir irrsinnigen Anpressdruck erzeugen, wenn wir mit dem Auto immer tiefer werden. Wir waren überzeugt, wir werden einen Riesenvorteil haben. Leider gibt es bei uns kaum jemanden, der das in den 70ern oder 80ern miterlebt hat und hätte sagen können: „So tief kann man gar nicht fahren!“ Unsere jungen Ingenieure sagen: „Wir haben das Phänomen des Bouncing (hüpfende Autos, Anm.) total unterschätzt.“ Das haben Ferrari und Red Bull viel besser hingekommen.
... die aktuellen Probleme:
Das Auto ist kritisch zu fahren. Die Fahrer müssen ans Limit gehen. Aber unsere Daten sagen, dass wir auf dem richtigen Weg sind, wieder den Anschluss zu finden. Interessant ist, wie schnell sich der Kopf anpassen kann. Für uns ist klar: Unsere Position ist derzeit Dritter. Alles, was besser ist, ist großartig.
... Niederlagen:
Wir haben keinen Anspruch, Sieger zu sein. Alle anderen arbeiten rund um die Uhr mit klugen Köpfen. Dann kann es sein, dass ein anderer einen besseren Job macht. Dieser Sport ist keine Mystik, sondern einfach pure Physik. Wenn man an seine Leute glaubt, an die gesamte Infrastruktur und an die Dynamik im Team, dann wird man nicht innerhalb von vier Monaten vom Weltmeister zum Deppen.
... das Ende der Dominanz:
Es gibt nicht viele Teams, die mehrere Weltmeisterschaften hintereinander gewonnen haben. Der Grund ist, dass die Teams auseinandergehen, die Motivation wird geringer, die Energielevel gehen hinunter, es gehen einem die Ziele aus. Das versuchen wir genau zu analysieren. Ein Team, eine Firma, ist ein Gebilde aus Menschen, die alle ihre Träume und Ängste haben. Da kann man als Chef sagen: „Mir ist das wurscht. Wenn wir gewinnen, bekomme ich einen fetten Bonus.“ Aber ich kümmere mich darum, ganz genau herauszufinden, was jeden einzelnen Mitarbeiter antreibt. So können wir die Ziele des Teams auf die Ziele des Einzelnen herunterbrechen. Unsere Top-30-Mitarbeiter haben ihre Ziele in einem Dokument niedergeschrieben, das sie immer bei sich tragen.
... sein Verhältnis zu Red-Bull-Berater Helmut Marko:
Ich bin in Baku in den Doktor reingelaufen und habe zu ihm gesagt: „Deine Probleme möchte ich haben.“ Worauf er sagt: „Jetzt weißt du, wie es uns acht Jahre lang gegangen ist.“
... Lewis Hamilton:
Was mich begeistert, ist seine Anpassungsfähigkeit und sein Wille, nie aufzugeben. Er weiß, wir haben jetzt diese Situation, und er stellt sofort die Frage: „Wie kommen wir da wieder raus?“ Er kann auch mit Situationen abschließen, die man nicht mehr ändern kann, etwa mit dem WM-Finale 2021. Das kann man von den wirklich guten Leistungssportlern lernen. Ich habe mit Lewis gesprochen und gesagt, er soll noch fünf bis zehn Jahre bei uns fahren. Tom Brady ist 44 und spielt American Football. Da wird man doch in dem Alter noch mit einem Auto fahren können.
... seine Teamchef-Rolle:
Mir taugt’s voll, und ich glaube, dass ich noch etwas beitragen kann zum Team. Ich versuche, das auch noch zu verifizieren mit Feedback. Aber den richtigen Moment für den Rücktritt gibt es nicht. Ich bin zu einem Drittel Eigentümer bei Mercedes. Die Frage ist nur, wie lange ich Teamchef bleibe. Meine nächste Rolle ist dann, allen auf die Nerven zu gehen wie der Niki als Chairman.
... den idealen Schlussstrich unter eine Karriere:
Der Sportler weiß, eines Tages endet seine aktive Sportlaufbahn. Wenn er clever ist, wie Lewis oder Marcel Hirscher, weiß er, wie lange er das noch auf hohem Niveau machen und wie lange er dem Druck standhalten kann. Je mehr man gewinnt, desto größer wird der Druck, denn das Verlieren ist keine Option. Da gibt es welche wie Nico Rosberg, die nach dem ersten Titel genug haben; dann gibt es welche wie Hirscher, der alles gewonnen hat und dann aufhört; und dann gibt es welche, die einfach einen Heidenspaß haben und deshalb weitermachen. Aber ich kann nicht einfach sagen, dass ich aufhöre. Für mich gibt es keine Alternative. Also muss ich in Kauf nehmen, dass es schwierige Jahre gibt, die mich stärker machen, um wieder über Jahre gewinnen zu können. Jetzt weiß ich, dass ich es aushalte.
... Formel-1-Chef Stefano Domenicali:
Ich habe mit dem Job selbst immer wieder geflirtet. Aber ich sage ganz ehrlich: Ich könnte das nicht besser machen als Stefano. Er hat bei Ferrari die Teamseite gesehen, mit all der Größe und all dem Drama. Er hat den Sport von allen Seiten kennengelernt.
... Diversität:
Wir haben im Team zwölf Prozent Frauen und fünf Prozent mit diversem Background. Unser Ziel ist es, bei allen Neuanstellungen auf mindestens 25 Prozent aus unterrepräsentierten Gesellschaftsschichten zu kommen. Das können Minderheiten sein oder Personen aus unterprivilegierten Familien. Wir schauen uns auch öffentliche Schulen und Universitäten an, an denen Menschen studieren, die keine Möglichkeit haben, an teure Unis zu gehen. Das Interesse ist gewaltig. Wir haben für eine ausgeschriebene Marketing-Position 1.400 Bewerbungen bekommen, auf neun Praktikumsstellen kommen 4.500 Bewerber. Die Neuzugänge sind unglaublich: Diese Ambition, diese Passion, dieser Arbeitsdrang – das wird uns langfristig besser machen.
... einen möglichen Einstieg des VW-Konzerns:
Sowohl Audi als auch Porsche wären richtig gute Zugewinne für die Formel 1. Aber der einzige Weg, um erfolgreich zu sein, ist, sich mit einem bestehenden Team zusammenzutun.
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