Malcolm Bidali hat es am Ende doch noch aus Katar heraus geschafft. Der Kenianer hatte schon zum zweiten Mal in Katar gearbeitet. Diesmal als Security. Er hauste in einem Camp für Arbeitsmigranten. Am 4. Mai war er verschwunden.
Die katarischen Behörden hatten ihn zur Vernehmung mitgenommen. Ins Camp kam er nicht mehr zurück. Der Grund für die Festnahme: Unter dem Decknamen Noah hatte der 28-Jährige in einem Blog über die Zustände im Lager, die schlechte Behandlung und Bezahlung der Arbeitsmigranten geschrieben. Von mehr als 12 Stunden langen Schichten, engen, schmutzigen Unterkünften, leerem Magen und trockenen Mund erzählte er dort.
Dann war Bidali verschwunden – fast drei Monate lang. 26 Tage davon in Einzelhaft, wie sich später herausstellte. Bis er im Juli unter Druck und mit finanzieller Unterstützung von Menschenrechtsorganisationen (sie übernahmen die Strafe von umgerechnet 7.000 Euro) freigelassen wurde. „Ich dachte, ich werde Katar nie mehr verlassen“, sagte Bidali danach.
Schattenseiten der WM
Ihre Westen leuchten neongelb, orange, signalfarben – und doch soll sie am besten niemand sehen. Unter der prallen Sonne arbeiten Hunderttausende Arbeitsmigranten in Katar – und sorgen dabei für eine der Schattenseiten der aktuellen WM-Berichterstattung.
Doch der Eindruck, den der Beobachter aus Europa hat, täuscht: Nicht nur auf den Baustellen schuften Arbeitsmigranten, in so gut wie allen Dienstleistungsbereichen sind Menschen aus Asien und Afrika beschäftigt. Von den rund 2,3 Millionen Arbeitsmigranten werken „nur“ rund 30.000 auf den so genannten WM-Baustellen.
Die anderen arbeiten am Flughafen, auf den Grünanlagen, von den Taxis zu den Hotels, bis in die privatesten Bereiche hinein. Ganz besonders unsichtbar sind Frauen, die als Haushälterinnen oder Kindermädchen in den privaten Anlagen von reichen Einheimischen oder ausländischen Geschäftsleuten – oft ohne Ruhepausen – beschäftigt sind.
Arbeitsmigranten gibt es in Katar schon seit der frühen Aufbauphase des Landes, erklärt Ronny Blaschke, der sich als Autor und Journalist mit Sport in Autokratien beschäftigt, in seinem Buch „Machtspieler“. Seit den Neunzigern kommen sie vermehrt aus Indien, Bangladesch und Pakistan.
Einmal angeworben, erhalten sie in Katar einen „Kafala“, eine Art Bürgen, der sich einerseits um ihren Aufenthalt kümmert, andererseits aber oft auch ihre Pässe einsammelt. Die Einwanderer sind in der Folge vom Kafala abhängig, „Einreise, Aufenthalt und Ausreise sind zur Gänze an diese Person gebunden“, erklärte Max Tunon, Leiter der UN-Arbeitsrecht-Organisation ILO in Doha bei einem Besuch von Außenminister Michael Linhart im Oktober. An einen Jobwechsel war für Arbeitsmigranten deshalb lange gar nicht zu denken.
In Europa haben die meisten über dieses Kafala-System erst im Zuge der WM-Baustellen erfahren. Dass es nicht nur in Katar, sondern in der gesamten Golfregion angewandt wird, drang in den Berichten oft gar nicht durch.
"Historisch"
„Wenn die WM schon dorthin vergeben ist, kann man vielleicht das letzte verbleibende Jahr dazu nutzen, auf diese Missstände hinzuweisen“, sagt Ronny Blaschke – wohl wissend, dass das mediale Scheinwerferlicht nach dem Turnier wohl nicht mehr lange auf das Emirat gerichtet sein wird.
Tatsächlich hat sich seit der WM-Vergabe 2010 etwas getan. Katar ist heute das erste Land, das das Kafala-System – mithilfe von Organisationen wie der ILO – abzubauen anfing und einen Mindestlohn (200 Dollar pro Monat) sowie verpflichtende Ruhezeiten einführte. Es gibt jetzt ein Arbeitsgericht und einen Entschädigungsfonds bei ausbleibendem Gehalt. Auch ein Jobwechsel ist seit einer Gesetzesreform 2020 zumindest theoretisch möglich.
Die ILO spricht von einem „historischen Schritt“. „Gemessen daran, wie lange unsere Arbeiterbewegungen in Europa gebraucht haben, ist das in Katar sehr schnell gegangen“, findet auch Beobachter Blaschke. Nach Maßstäben Europas sei Katar in Sachen Arbeitsrecht rückständig. Nach Maßstäben der Golfregion „ist Katar ein Zukunftsmodell“.
Doch die Euphorie hält sich in Grenzen. Denn zwar war die Regierung zu den Reformen bereit, an der Umsetzung hakt es allerdings. Große Unternehmen sind teils tief in der Herrscherfamilie verwurzelt und werden kaum kontrolliert. So heißt es auch bei Menschenrechtsorganisationen: „Die Reformen stagnieren nicht nur, es kommt leider – vor allem hinsichtlich des Kafala-Systems – teilweise auch zu Rückschritten“, sagt Amnesty Österreich Geschäftsführerin Annemarie Schlack. Arbeitnehmer haben jetzt zwar am Papier mehr Rechte, aber viele trauen sich nicht, ihre Arbeitgeber zu kritisieren. Die Folge sind lange Verfahren. „Die Verstöße müssen zur Rechenschaft gezogen werden – nur so kann das System durchbrochen werden“, sagt Schlack.
Todesfälle
Vor allem multinationale Konzerne stünden auf der Bremse, heißt es bei der ILO hinter vorgehaltener Hand. Tausende Gastarbeiter in Katar, die die Weltmeisterschaft und alles rundherum erst ermöglichen, sind weiter ihren Arbeitgebern ausgeliefert.
Laut neuem ILO-Bericht sind im Vorjahr 50 Gastarbeiter bei der Arbeit gestorben, rund zehnmal so viele wurden schwer, 37.600 leicht verletzt.
Andere Organisationen setzen die Zahl der Todesfälle viel höher an. Zu überprüfen sind die Daten nur schwer. “Fakt ist: Wenn relativ junge und gesunde Männer nach langen Arbeitsstunden in extremer Hitze plötzlich sterben, wirft dies ernste Fragen über die Arbeitsbedingungen in Katar auf”, sagt Schlack. Bei den von Amnesty International untersuchten Todesfällen zeigte sich, dass “bei keinem der Männer gesundheitliche Probleme bekannt” waren. Alle hatten die vorgeschriebenen medizinischen Tests bestanden, bevor sie nach Katar gereist waren.
Malcolm Bidali hatte all das befürchtet. Dass die Reformen auf dem Papier gut aussehen, sich aber für Menschen wie ihn nur wenig ändert. Er ist mittlerweile wieder in Kenia. Tausende Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt verdienen immer noch ordentliches Geld in Katar – unter Bedingungen, die alles andere als ordentlich sind.
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