Causa Arnautovic: "Gefühl, dass er sich als Kunstfigur inszeniert"
Ein heißer Vormittag in Sommerein. Im Dorfwirtshaus unweit der Kirche sitzen die älteren Herren schon beim ersten Bier. „Ist Mario schon da?“ Die Kellnerin nickt. Mario Schlembach kommt aus dem Büro. Es ist das Gasthaus Schlembach und gehört seinem Onkel, dem er oft hilft.
Der 35-Jährige wuchs ein paar Kilometer von der niederösterreichischen Ortschaft entfernt auf, auf dem Aussiedlerhof nahe dem Lagerfriedhof bei Kaisersteinbruch. Schlembach hilft seinem Vater bei der Landwirtschaft und als Totengräber, ist Schriftsteller und wollte seine Karriere als Amateurkicker beim Dorfklub beenden.
KURIER: Sie haben in „Die letzte Saison“ angekündigt, mit dem Fußball aufzuhören. Hat Ihnen Corona das ambitionierte Vorhaben durchkreuzt?
Mario Schlembach: Da war die Utopie, ein passendes Ende zu finden. Ich habe trainiert und wollte es noch einmal in die Kampfmannschaft schaffen, aber dann ... Die Auszeit durch Corona hat mir zumindest die wahnsinnige Vorfreude auf Fußball wiedergeschenkt. Und solange es mein Körper zulässt, genieße ich jetzt in der Reserve noch Spiel für Spiel. Ganz loslassen kann ich wohl doch nicht.
Wie kamen Sie zum Fußball?
Ich bin im Dorf aufgewachsen, da bist du als Junger zur Musik, zur Feuerwehr oder zum Fußballverein gegangen.
Hatten Sie großes Talent mit dem Ball?
Ich war nie der große Kicker. „Wennst’ nichts kannst, aber laufen kannst“, haben meine Trainer zu mir gesagt und mich auf Positionen gestellt, wo ich am wenigsten „anstellen“ konnte: rechtes Mittelfeld. Dann Verteidigung. Die „Kreativen“ waren andere, und ich bin immer über den Kampf ins Spiel gekommen. Mit 16 sind die Besten aus unserer Nachwuchs-Mannschaft zur Ersten gewechselt. Weil ich zu schwach war, hat mich der Opa nach Höflein vermittelt, die in der 2. Klasse Ost gespielt haben. Nach zehn Jahren bin ich dann wieder nach Sommerein zurück.
Wie kam Ihr Fußballtext an?
Es war das erste Mal, dass ich über meine Karriere als Fußballer geschrieben habe. Die Kommentare waren sehr positiv, weil sich viele Leute damit identifizieren konnten. Ich kenne wenig Literatur über den unterklassigen Fußball und die vielen Geschichten, die er erzählt. Dokus und ausführliche Berichte sind eher über den Profibereich zu finden.
Wie vertragen sich Literatur und Fußball?
Literarisch gesehen ist Fußball ein weites Feld voller Tragödien und Heldengeschichten – die sich durch alle Klassen ziehen. Etwaige Vorurteile beziehen sich wohl eher auf negative Berichte in der Fankultur.
- Der Privatmann
Geboren am 21. November 1985, wuchs er in Sommerein auf, wo er die Volksschule besuchte. Nach der Hauptschule in Mannersdorf ging er auf die Höhere Lehranstalt für Produktmanagement und Präsentation in Mödling. Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft.
- Das Werk
Er schrieb Reportagen, Kurzgeschichten, Essays und Dramolette. Sein erstes Theaterstück, „Der Totengräber des Stalag XVII A“ (2012), arbeitete die vergrabene Lagergeschichte seiner Heimat auf. Seine Dissertation über Thomas Bernhard wurde Ausgangspunkt für seinen ersten Roman „Dichtersgattin“ (2017). Sein zweiter Roman „Nebel“ (2018) ist das Ergebnis seiner engen Verbundenheit mit dem Tod.
Ist Sport pfui?
Ganz im Gegenteil. In der heutigen Zeit individuellen Selbstoptimierungswahns wird Sport eher heiliggesprochen.
Noch besser als Fußballer und Literat hört sich an: Totengräber und Schriftsteller.
Sage ich, dass ich Schriftsteller bin, können sich die Leute meist wenig darunter vorstellen. Sage ich, dass ich Totengräber bin, dann kommt sofort ein Gespräch in Gang. Schon alleine von der Begrifflichkeit meiner Tätigkeit her. Viele glauben ja, meine Aufgaben sind die eines Bestatters, aber als Totengräber bin ich reiner „Erd-Logistiker“ beziehungsweise ein klassischer 6er: Löcher aufreißen. Löcher schließen.
Wie wichtig war der Job als Totengräber fürs Schreiben?
Existentiell! Schon als Kind habe ich dem Papa beim Graben zugeschaut und zugehört, wie die alten Menschen ihr Herz ausschütten – und das ist ja die Basis der erzählerischen Kunst. Kommendes Frühjahr erscheint ein neuer Roman von mir, in dem ich meine Friedhofsarbeit – auch in Bezug auf eine bei mir diagnostizierten Lungenkrankheit – reflektiere. Die Krankheit war es auch, die mich an ein Ende meiner Fußballkarriere denken ließ.
Rund um die EM wird neben dem Sport viel über politische Themen diskutiert.
Vor allem so große Turniere sind in gewisser Weise ein Spiegel der Gesellschaft. Viele Themen haben sich in den letzten Monaten aufgestaut und finden hier jetzt eine Plattform und ein Ventil.
Aber Sport ist auch Politik. Und nächstes Jahr gibt es eine WM in Katar.
Viele Entscheidungen sind kaum mehr nachvollziehbar. Die Augen weiter zu verschließen, ist eigentlich unmöglich. Und letztlich geht das alles auf Kosten des Spiels.
Wie gefällt Ihnen die EM?
Sportlich gesehen sehr gut. Von der Organisation her hat es für mich leider nichts mehr mit einer EM zu tun. Durch das Aufsplittern in mehrere Länder wird es zu einem eher beliebigen Ereignis.
Warum?
Während der EM in Frankreich habe ich einige Monate in Paris gelebt. So eine Weltstadt ist plötzlich zu einem Dorf von Fußballfans aus ganz Europa geworden, die gemeinsam gefeiert haben.
Einer der Aufreger der EM war Marko Arnautovic.
Ich mag ihn. Nicht nur fußballerisch. Bei seinen öffentlichen Auftritten habe ich das Gefühl, dass er sich als Kunstfigur inszeniert. Und zu so einer Reflexion sowie Selbstübersteigerung bist du nur fähig, wenn du eine gewisse Intelligenz besitzt. Zlatan Ibrahimovic macht das zum Beispiel in Perfektion.
Verstehen Sie seinen emotionalen Ausbruch?
Im Sprechen über Fußball muss man Rationales oft weglassen. Und sich in solch eine Extremerfahrung selbst hineinzudenken, ist eigentlich unmöglich.
Sie spielen im österreichischen Autorenfußballteam. Wirft man sich da ab und zu das Götz-Zitat an den Kopf?
Nein, da wird ganz profan geschimpft. Wir haben Anfang Juni gegen das Priesternationalteam gespielt. Mein Knöchel ist noch immer geschwollen. Es war eine lange Beichte des Gegenspielers in der Halbzeitpause. Endergebnis: Unentschieden.
Also ist schimpfen gar nicht so schlecht?
Wenn man seit seiner Kindheit in einem Mannschaftssport spielt, wird das Schimpfen quasi eine zweite Fremdsprache. Das passiert im Rahmen des Spiels. Am Ende gehst du raus, gibst dir die Hand und holst dir gemeinsam ein Bier in der Kantine. Im Theater würde man es wohl Katharsis nennen. Fußball reinigt die Seele – auch für die Zuschauer, die ja meist noch ekstatischer reinschreien. Trotzdem sollte man sich immer der Grenzen bewusst sein.
Auch der Zusammenbruch des Dänen Eriksen war ein Aufreger.
Es war ein Schock, weil man plötzlich gesehen hat, an welch seidenem Faden alles hängt. Fußballprofis sind auch nur Menschen. Sie stehen ständig unter Beobachtung, sie müssen immensen Druck aushalten – von allen Seiten. Wenn man sich anschaut, dass bei der EM 17- und 18-Jährige spielen und solchen Situationen ausgesetzt sind, muss man sich wundern, dass nicht mehr umfallen. Das Ganze wurde sehr unglücklich gelöst. Niemand hat genau gewusst, wie es dem Spieler geht, als die Partie fortgesetzt wurde.
Der Druck ist auch gekommen, weil Fußball zu einem Milliardengeschäft wurde.
Und jeder Spieler ist ja heute nicht mehr bloß ein Fußballer, sondern ein Unternehmer, der sich so gut wie möglich selbst vermarkten muss. Geschafft hast du es nicht mehr, wenn du „nur“ Europameister wirst, sondern wen du dich als Marke etablierst. Siehe David Beckham. Wir sind sehr nah dran, dass diese Seifenblase platzen wird. Aber dafür gibt es ja dann wieder den Amateurfußball und die kleinen, großen Geschichten darin.
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