Ruttensteiner nach EM-Finale: Karma lässt sich nicht einwechseln

Willi Ruttensteiner und Co. haben neue Ziele definiert.
Die Passivität Englands wurde trotz eines Blitzstartes bestraft. Im Elfmeterschießen auf die Jugend zu setzen, war ein Fehler.

Eine Kolumne von Willi Ruttensteiner

Es war alles angerichtet. Wembley hatte sich fein gemacht, das Blitztor von Luke Shaw beamte Englands Euphorie in unbekannte Galaxien und auf dem Rasen schien Gareth Southgates exzellenter Matchplan mit Dreierkette wie maßgeschneidert für ein Italien, das die schwächsten 30 Minuten des Turniers ablieferte.

Das hohe Pressing, das ständige Attackieren über die Außenspieler – Fehlanzeige, niente. Dann zogen plötzlich dunkle Wolken über Wembley auf. Während Southgate sich selbst noch durch einen schicken blauen Burberry schützen konnte, fand er keine Antwort mehr auf die wachsende Passivität seiner Mannschaft, er konnte die Verwaltung des 1:0 nicht mehr stoppen, der Druck wurde zu groß, die kollektive Mutlosigkeit sollte sich rächen.

Mancini hingegen reagierte: Er positionierte sein Team um, die Außen nutzten die Räume besser und Metronom Jorginho avancierte wieder zum Spielmacher und Taktgeber. Italien dominierte bis zum bitteren, englischen Ende. Das Karma war zurückgekommen.

Nur Schadensbegrenzung

Dass Southgate kritisiert wird, er habe Bakayo Saka erst nach dem Ausgleich und Jack Grealish viel zu spät eingewechselt, ist nachvollziehbar. Das war kein aktives Coaching, sondern reine Schadensbegrenzung. Ich habe es auch nicht verstanden, junge Spieler einer Situation auszusetzen, die sie nur schwer bewältigen können.

Sekunden vor dem Abpfiff der Verlängerung Rashford und Sancho mit dem Auftrag, ohne Ballberührung den wichtigsten Elfer ihres Lebens zu verwandeln, war ein psychologischer Fehler. Warum wurden die erfahreneren Sterling, Stones oder Grealish nicht in die Pflicht genommen? Und wie lange ein vergebener Penalty wie der von Saka zum Trauma werden kann, weiß gerade Southgate wie kein anderer.

Ich bin überzeugt, dass Italien kein Comeback gelungen wäre, hätten die Engländer mehr Risiko genommen und Southgate sein herausragendes Offensivpotenzial genutzt.

Was wird von dieser EURO bleiben, welche Erkenntnisse sollte man als Trainer umsetzen? Man muss die Fairness dieses Turniers hinterfragen: Alle Semifinalisten haben ihre Matches größtenteils zu Hause absolviert – ich hoffe, man kehrt zum alten Modus zurück.

Raumordnung

Im Fußball geht es immer um Raum. Die eine Mannschaft versucht, durch schlaue Pässe und Positionierung Räume zu öffnen, die andere durch cleveres Verteidigen und Verschieben diese zu verengen. In dieser Hinsicht war die paneuropäische EM eine Benchmark und Orientierungshilfe für jeden Coach.

Bei der Wahl zum Team des Turniers habe ich David Alaba als linken Verteidiger nominiert. Ein Italiener, der die Siegermedaille als erster von UEFA-Präsident Ceferin umgehängt bekam, hatte jedoch die Nase vorne. Dass Gigi Donnarumma zum besten Spieler gewählt wurde, habe ich unterstützt. Als deutliches Signal, dass die eminente Bedeutung des Torhüters im modernen Fußball auch bei der Spieleröffnung noch stärker in den Fokus gestellt wird.

Willi Ruttensteiner war von 2001 bis 2017 Sportdirektor des ÖFB und danach von Israel. Der 58-Jährige trainiert das Nationalteam Israels und ist damit ein Widersacher des österreichischen Teams in der anstehenden WM-Qualifikation.

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