Ex-Kanzler Vranitzky: "Hier wird auch seelischer Missbrauch betrieben"
Es lebe der Sport! Unter diesem Motto bittet der KURIER prominente Österreicher, von ihrem Sportlerleben zu erzählen. Wer würde zum Start dieser Interview-Serie besser passen als Franz Vranitzky? Der 84-jährige Wiener schaffte es vor seiner Zeit als Bundeskanzler (1986 – 1997) bis ins Basketball-Nationalteam.
KURIER: Welchen Stellenwert hatte oder hat der Sport in Ihrem Leben?
Franz Vranitzky: Er hatte einen sehr hohen Stellenwert. Ich habe in jungen Jahren sehr eifrig Sport betrieben. Begonnen habe ich mit Fußball beim Wiener Sportclub. Zum Basketball bin ich über das Gymnasium in der Geblergasse gekommen. Dort hatten wir einen schönen Turnsaal mit einem ausgezeichneten Parkettboden. Das war noch in der Besatzungszeit, und ich bin mit amerikanischen Soldaten ins Gespräch gekommen. Die haben im 17. Bezirk eine Straße abgesperrt, wo sie Baseball trainiert haben.
Wo haben Sie trainiert?
Die Amerikaner hatten im Messepalast, wo heute das Museumsquartier ist, eine hervorragende Basketballhalle gebaut mit versiegeltem Parkettboden, elektrischer Anzeige – und Coca-Cola gab es dort. Das Basketball-Zentrum damals war das Palais Ferstl, dort hat sich das sportliche und auch soziale Leben abgespielt. Ich habe den Sport sehr intensiv betrieben, es gab kaum einen Tag, an dem ich nicht einen Ball in der Hand hatte. In dieser Halle habe ich auch meine Frau kennengelernt.
Ihre Basketball-Karriere nahm in Folge Fahrt auf.
Erfreulich zügig. 1955 habe ich maturiert und schon 1957 mit der Nationalmannschaft an der EM teilgenommen. 1960 haben wir die Olympia-Ausscheidung gespielt. Bis zum 30. Lebensjahr war ich aktiv, bis mich eine Knieverletzung zurückgeworfen hat. Ich habe danach immer Basketball verfolgt, hier sowieso, aber auch die NBA.
Welchen Bezug haben Sie zur NBA?
Ich hatte beruflich einen längeren USA-Aufenthalt und in New York, vor allem im Madison Square Garden, viele Spiele angesehen. Die Attraktivität des amerikanischen Basketballs, die ja 100:1 im Vergleich zu unserem ist, habe ich in mich aufgesogen.
Welchem Team drücken Sie die Daumen?
Immer schon den Los Angeles Lakers, die ich damals noch als Minneapolis Lakers kennengelernt habe, ehe sie später übersiedelt sind. Viele wissen ja nicht, was es mit dem See im Namen auf sich hat, da es in L. A. keinen bekannten gibt.
Wo waren Ihre Stärken? Im Aufbau, Mann gegen Mann unterm Korb, oder waren Sie auch bei weiten Würfen für Dreipunkter gut?
Von der Aufstellung her könnte man sagen, dass ich ein Flügelspieler war. Dreipunkter hat es damals noch nicht gegeben, ebenso wenig wie die 30-Sekunden-Regel. Man konnte den Ball in der Mannschaft halten, solange man wollte. Italien war darin ein Spezialist: Ein Spiel gegen sie ist 15:16 ausgegangen.
War für Sie klar, dass Sie einen Mannschaftssport ausüben wollten?
Ja, ich war immer in einem Team. Fußball, Basketball, später dann auch Volleyball oder dann Faustball. Sport war für mich immer Mannschaftssport. Ich war nie gut im Skifahren.
Eine Profikarriere war damals nicht denkbar, oder?
Das war undenkbar. Weil es niemanden gegeben hat, der dem Profi etwas bezahlt hätte. Und wenn er nicht bezahlt wird, ist er kein Profi. Wenn wir auf die Gegenwart reflektieren – da hat sich der Sport sehr dynamisch entwickelt. Ob immer in die richtige Richtung, mag einer anderen Beurteilung unterliegen. Wo früher das Geld gefehlt hat, steht es partiell heute im Überfluss zur Verfügung. Vor allem im Fußball. Da fällt mir ein aktuelles Beispiel ein.
Und zwar?
Salzburg – kein Traditionsverein – ist immens überlegen und muss sich wegen der Finanzen keine Sorgen machen. Die Austria – ein Traditionsverein – ist hoch verschuldet und krabbelt sportlich irgendwo herum.
Als Sportler ist man stets mit Niederlagen konfrontiert. Hat Ihnen das später in der Politik geholfen?
In meiner Basketball-Welt war es meist so, dass man im Voraus wusste, wie das Spiel ausgehen würde. International waren wir aufgrund unseres Mauerblümchen-Daseins meist Außenseiter. Das Ertragen einer Niederlage war daher nicht so dramatisch. In der Politik wäre ein Wahlkampf vergleichbar mit einer sportlichen Auseinandersetzung. Wenn man da mit dem Bewusstsein reingehen würde, dass man verliert, sollte man es lieber bleiben lassen. Ich bin in der glücklichen Situation gewesen, keine Nationalratswahl verloren zu haben. Dieses persönliche Drama habe ich nicht erlebt.
In einem Team gibt es unterschiedliche Charaktere, Meinungen, Strömungen. Ist das in der Politik ähnlich?
Das ist ein Thema, das gruppendynamisch wesentlich ist. Mitglieder einer Gemeinschaft sind nie alle gleich, egal ob im Sport, in der Politik oder der Kultur. Im Sport handelt es sich oft um Individualisten in einem Team, wo es natürlich auch zu Spannungen kommen kann. Wichtig ist die Mannschaftsdisziplin. In der Politik ist es noch ärger ausgeprägt: Es kommt ein Spannungsverhältnis auf mehreren Ebenen auf. Wenn alle den Einheitsmarsch singen, dann wäre die Politik unendlich fad und nicht zielgerichtet. Unterschiedliche Meinungen sind das Salz in der Suppe. Man muss nur darauf achten, dass die Suppe nicht versalzen wird.
Waren Sie im Team der Moderator?
Ein bissl vielleicht. Es ist schwer, sich selbst zu beurteilen, aber ich wurde oft als der Ausgleichende bezeichnet.
In Österreich hat der Sport keinen großen Stellenwert. Das ist auch zu spüren, wie und warum über Sportminister entschieden wird. Wie kann das die Politik ändern?
Der Sport wurde oftmals hin und hergeschoben, bis ich ihn selbst übernommen habe. Natürlich eine schlechte Sache. Kontinuität in der ministeriellen Betreuung hilft dem Sport, sofern sie eine gute ist. Und jetzt? (denkt nach) Hat Vizekanzler Kogler den Sport.
Davor war der Sport bei Vizekanzler Strache.
Ja, der war ein großer Sportler.
Verliert der Sport in einer Gesellschaft mit vielen Freizeitangeboten weiter an Bedeutung?
Ich hoffe nicht. In Bezug auf die Volksgesundheit ist der Sport ein ganz wichtiges Element: Im Kampf gegen Übergewicht, frühe Diabetes oder Trägheit. Der Breitensport muss in den Schulen forciert werden und auch in der Bewusstseinsbildung für Jedermann. So gesehen ist der Sport auch Gesundheitspolitik.
Geht es uns nach vielen Jahrzehnten des Aufbaus vielleicht einfach zu gut?
„Zu gut“ zu sagen, ist gefährlich, weil das ein polemischer Kampfbegriff ist. Wir landen jetzt beim Sozialstaat, den ich für einen der ganz wesentlichen Elemente unserer demokratischen Gesellschaft halte – niemand soll verloren gehen! In Fragen des Wohlstands hat sich die Politik nicht nur um die allgemeine Ausprägung, sondern um die Schere zwischen arm und reich zu kümmern. Eine Schere, die immer wieder zu weit aufgeht.
Diese Schere wird im Fußball immer größer. Sehen wir ein Spiegelbild der Gesellschaft?
Ja, wenn ich an abstruse Ausformungen denke wie die Idee einer in sich geschlossenen Super League. Hier wird auch seelischer Missbrauch betrieben. Ich denke an einen Vater, der an anderer Stelle sparen muss, um mit seinen beiden Buben zum Spiel gehen zu können. Wenn sie dann lauter Millionäre herumlaufen sehen, ist das nicht gut. International wurde ein Markt gebildet, der auch am Leben gehalten wird. Die spanischen Großklubs sind hoch verschuldet, aber es macht dort nix. Erst dann, wenn Vereine ihre kaufmännische Gestion nicht mehr in Händen halten, um dieses Spiel weiterzuspielen, wird aus einem einbetonierten System ein wackeliges Kartenhaus.
In der Politik wie im Sport weiß es das Publikum immer besser. In welchem Bereich waren Sie härterer Kritik ausgesetzt?
Im Sport wurde ich nicht hart kritisiert. Aber ich weiß, wie hart und ungerecht es für Sportler sein kann: Rassismus, oder auch andere unsinnige Beschimpfungen. Ich erinnere mich da an das Länderspiel mit Ivanschitz, der in Hütteldorf von Rapid-Fans unfassbar beschimpft wurde. Jeder, der auf einer Bühne agiert, muss mit Kritik rechnen. Jene, die vorne an der Kante stehen, bekommen die meisten Pfeile ab. Deswegen gibt es ja viele, der gerne dabei sind, sich aber im Hintergrund aufhalten. Sie wissen es besser und um das kundzutun, gehen sie lieber hinter den Vorhang.
Im Sport wie in der Politik werden Emotionen heute stark in Social Media abgebildet. Sehen Sie in Social Media mehr Segen oder Fluch?
Nehmen wir die Kernspaltung her: Die war wissenschaftlich in vielen Bereichen ein Sprung nach vorne, aber sie wurde auch für tödliches Kriegsmaterial genutzt. Die Internet-Plattformen sind revolutionär und revolutionierend. Die Politik ist aufgefordert, Missbräuche einzudämmen. Dagegen gibt es natürlich Widerstände, weil das Wichtigste im Hintergrund das Sammeln von Daten ist. Jene, die sich damit eine goldene Nase verdienen, – die Namen sind bekannt – lehnen sich gegen Restriktionen auf. Aber da muss die Politik handeln.
Stichwort Corona: Sehen und fürchten Sie eine Spaltung der Gesellschaft?
Ein Virologe hat einen guten Vergleich bemüht: Schlecht, dass am Wochenende 40.000 Menschen demonstrieren. Aber: In einer Woche geht eine Million Menschen impfen. In diesem Größenvergleich würde ich nicht sagen, dass die österreichische Gesellschaft gespalten ist. Aber: Gemessen an der zunehmenden Intensität der Proteste ist es gut, dass der Staatsschutz hier aufmerksam ist.
Wie würde ein Bundeskanzler Vranitzky vorgehen?
Ich will aus dem Off keine weisen Ratschläge geben, weil ich weiß, wie groß die Herausforderungen – und es sind aktuell gleich mehrere – für die Politik sind. Allgemein würde ich betonen, dass es beim Thema Impfen um Solidarität geht: Jeder Mensch soll sich fragen, wie kann er am besten sich selbst und die Gesellschaft schützen.
Sie haben 2017 im Buch „Zurück zum Respekt“ beschrieben, dass in der Politik auch wertschätzend kommuniziert werden muss. Seither gab es Ibiza, Regierungswechsel, Chats und andere Skandale. Waren Sie ungewollt prophetisch?
Ich konnte natürlich nicht vorhersehen, was alles passieren wird. Ich will auch nicht breittreten, was einige nicht verhindert haben können, weil sie geglaubt haben, dass die Digitalisierung andere Effekte hätte. Mir geht es mit Respekt darum, gewisse Verhaltensweisen im menschlichen Umgang nicht zu vergessen. Die Argumente werden dadurch nur stärker. Das funktioniert nicht mit Respektlosigkeit.
Der Wiener
wurde am 4. Oktober 1937 geboren und wuchs in einfachen Verhältnissen in Hernals auf. Seit 1962 mit Christine verheiratet, lebt der 84-Jährige in Döbling.
Der Basketballer
wurde mit 20 Teamspieler, nahm an der Olympia-Qualifikation 1960 teil und spielte bis 30.
Der Politiker
wurde 1962 SPÖ-Mitglied und arbeitete im Bankbereich. Als Finanzminister 1984 in die Regierung gekommen, war der Doktor der Handelswissenschaft von 1986 bis 1997 Kanzler.
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