Alt-Kanzler Vranitzky: "Posten werden heute zwischen ÖVP und ÖVP aufgeteilt"
Zum Nationalfeiertag rechnet der SPÖ-Altbundeskanzler mit Sebastian Kurz ab. In den Koalitionsgesprächen zwischen Rendi-Wagner und Kickl sieht er noch keinen Bruch der Vranitzky-Doktrin.
Ein Land in Unruhe – so könnte man die Lage am Nationalfeiertag beschreiben. Franz Vranitzky, der letzte SPÖ-Kanzler, der bei Wahlen an die 40-Prozent-Grenze herankam, äußert sich selten zu aktuellen politischen Themen. Dieses Jahr macht er eine Ausnahme. Denn vor kurzem hat er sein neues Buch „Politik mit Haltung“ präsentiert.
KURIER: Herr Vranitzky, Ihr Buch heißt „Politik mit Haltung“. Aber auch Trumps Leitsatz „America first“ oder keine Flüchtlinge aus Moria aufzunehmen ist eine bestimmte Haltung. Wie definieren Sie Haltung?
Franz Vranitzky: Man muss zwischen dem politischen Kampfwert wie „America first“ und der persönlichen Einstellung zu herannahenden Problemen unterscheiden. Wenn ich an meine Amtszeit zurückdenke, dann gab es doch viele Anlässe, um eine bestimmte Einstellung einzunehmen, und bei der auch gegen Widerstände anderer Leute zu bleiben. Haltung hat auch etwas mit Anstand und Respekt zu tun.
Sie haben die „Vranitzky-Doktrin“ geprägt, wonach die SPÖ auf keinen Fall eine Koalition mit der FPÖ eingehen solle. Rendi-Wagner hat Ihre Doktrin aufgeweicht und war bereit, in einer Koalition mit der FPÖ Kanzlerin zu werden. War das für Sie ein Tabubruch?
Dieses Wort Doktrin habe ich nicht geprägt. Das Wort habe ich auch nie verwendet. Ich habe meine Ablehnung, mit der Freiheitlichen Partei eine Regierung zu bilden, im Jahr 1986 ins Treffen geführt. 35 Jahre später spricht man von einem Tabubruch. Die heutigen Politiker sind mit anderen Situationen konfrontiert, als ich das 1986 war. Ich persönlich halte auch heute noch an dieser Haltung fest. Nach dem Ausscheiden des Bundeskanzlers Kurz wurden kreuz und quer viele Gespräche geführt. Ich war bei dem Gespräch zwischen Rendi-Wagner und Kickl nicht dabei, aber in der Zwischenzeit weiß ich, dass natürlich eine Koalition mit den Freiheitlichen nicht angedacht war. Abgesehen davon wäre das nur nach einer Neuwahl überhaupt ein Thema. Davon ist zwar derzeit viel die Rede, nur findet sie in überschaubarer Zeit nicht statt.
Bei der Kanzlerfrage liegt Herbert Kickl sogar einenProzentpunkt vor Pamela Rendi-Wagner. Warum kann die SPÖ diese Krisensituation der ÖVP nicht nützen?
Die SPÖ ist seit dem rasanten Abgang von Christian Kern in einer Findungssituation. Ich räume ein, dass diese Findungssituation schon eine Weile dauert, eigentlich zu lange dauert. Aber ich kenne diese Partei gut genug, um zu wissen, dass sie sich nicht aufgibt. Ich erwarte, dass bald Maßnahmen ergriffen werden, Diskussionen geführt und beendet werden, die zu einer Stärkung der SPÖ führen können. Da gibt es überhaupt nur ein einziges Rezept und das ist eine alte Tugend: die unterschiedlichen Standpunkte natürlich auszutragen, aber dabei das Erscheinungsbild der Partei nach außen nicht zu stören. Wenn die Meinung erstritten wird, dann hat sie jedenfalls eine gute Chance, dass nicht wieder Einzelne hinausgehen und sagen, sie seien eigentlich anderer Meinung. Diese Tugenden führen zu einer neuen Schlagkraft. Wenn die SPÖ diese Schlagkraft entwickeln wird, wird es wieder besser gehen. Wenn nicht, dann nicht.
Ohne den Namen zu nennen, geht Ihre Kritik in Richtung Hans Peter Doskozil. Burgenlands Landeshauptmann nimmt nicht mehr an den SPÖ-Präsidiumssitzungen teil. Wie kann man da einen Diskussionsprozess führen?
Ich nenne keine Namen. Aber Sie haben jetzt ein Thema angesprochen, das die Partei beim Schopf ergreifen und erledigen muss. Sie kann ja nicht mit etwas, das offensichtlich diese Einheit, die ich vehement fordere, nicht herstellt, weiterleben wollen.
Sie waren bis 1997 Bundeskanzler. Damals wurden staatliche Posten noch ganz selbstverständlich zwischen SPÖ und ÖVP aufgeteilt. Heute ist die Postenvergabe trotz des ÖBAG-Skandals viel transparenter. Trotzdem herrschte selten so viel Hass und Missgunst in der Politik, Opposition und Regierung wechseln kaum ein Wort miteinander. Wie kann das Klima im Land wieder konstruktiv werden?
Sie haben gesagt, früher wurden die Posten zwischen ÖVP und SPÖ aufgeteilt, heute werden sie auch aufgeteilt – aber zwischen ÖVP und ÖVP. Das hat sich schon geändert. Wir leben in einem Land, in welchem das Harmoniebedürfnis ganz offensichtlich ausgeprägt ist. Sebastian Kurz hat keinen Wert darauf gelegt, zum Beispiel ausreichende Begutachtungsfristen für Gesetzesvorlagen einzuräumen, oder die Sozialpartner zu wichtigen Fragen rechtzeitig einzubinden. Das musste alles immer erst erstritten werden. Das hat auch jene Zersplitterung herbeigeführt, die wir jetzt haben. Es wäre gut, wenn maßgebliche Kräfte hier wieder zu einer Beruhigung beitragen könnten. Insbesondere nach der Pandemie, wo wir die Wirtschaft und die Gesellschaft wieder aufrichten müssen, braucht es gemeinsame Kräfte
Ist Kurz nicht zu kurz im Amt, um ihm die Zersplitterung zuzuschreiben?
Die frühere rot-schwarze Koalition, war ja eine Koalition, in der Sebastian Kurz schon Mitglied war. Was schon früher zu beobachten war, ist heute in großer Deutlichkeit an die Öffentlichkeit gedrungen. Diesem Herrn Kurz war an einer gemeinsamer Beschlussfassung in der Bundesregierung nicht sehr gelegen. Im Gegenteil, um seinem Widerpart Mitterlehner nichts gelingen zu lassen, wurde viel blockiert. Das und auch andere Gründe haben dazu geführt, dass diese Große Koalition sehr bald den Stempel bekam: Die streiten nur, die bringen nichts weiter, die erledigen nichts. Dieser Eindruck setzt sich mit dem neuen Partner, den Grünen, jetzt fort. Außerdem steht der Regierung eben eine fast geschlossene Opposition im Parlament gegenüber. Da wird schon sehr hart von beiden Seiten argumentiert. Ich erinnere an den ÖVP-Abgeordneten Andreas Hanger, über den man ja nicht sagen könnte, dass er im Verdacht steht, besonders harmoniebedürftig zu sein. Das ist Rede und Gegenrede. Am Schluss steht die Zersplitterung.
Die rüde Tonalität in den Chats steht in der Kritik. Hatte Ihre Generation nur Glück, dass es damals keine Chats gab. Haben Sie sich wirklich nie im Ton vergriffen?
Ja, Glück oder Unglück? Es gab schon auch Auseinandersetzungen, wo man wahrscheinlich nicht die Sprache des Mädchenpensionats angewendet hat. Aber eines muss man sagen: Es wurde in den Chats in der Wortwahl nicht gegeneinander argumentiert, sondern miteinander über jemanden anderen. Dieses Faktum eröffnet den Blick auf eine Atmosphäre, die mir aus meiner Amtszeit jedenfalls nicht bekannt ist.
Eine Frage an den Politikprofi, nicht an den Ex-SPÖ-Kanzler: Kann Sebastian Kurz noch ein Comeback schaffen? Und: Wird Rendi-Wagner die nächste SPÖ Spitzenkandidatin sein?
Es ist ein zeitgeschichtlich einmaliges Phänomen, dass ein Regierungschef innerhalb einer Zeit von weniger als fünf Jahren zweimal den Ballhausplatz verlassen muss. Das ist jedenfalls objektiv und geschichtlich gesehen keine Voraussetzung dafür, dass so jemand wiederkommt. Ob Frau Rendi-Wagner Spitzenkandidatin sein wird oder nicht, beschäftigt mich heute nicht. Sie ist gewählte Parteivorsitzende. Sie hat ihre Probleme, ihre Schwierigkeiten zu bewältigen. Ich sehe, dass sie das tut. Solange diese Situation vorherrscht, werde ich mich nicht an einer Diskussion beteiligen.
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