Marcel, Marlies und die Meute
Der Erlöser ist zu seinen zuvor traurigen Rittern der Tafelrunde gestoßen, und schon hat Österreich nach Tagen der Finsternis die erste Goldmedaille bei der Heim-WM.
Die mediale Hysterie um Marcel Hirscher in den letzten Tagen hatte etwas zwischen Absurdistan und Ski-Sekte, erinnerte an vergangen geglaubte Zeiten, als Hermann Maier omnipräsent war und verehrt wurde wie sonst vielleicht noch Arnold Schwarzenegger.
Die wunderbare Meldung war der ORF2-Sendung „Heute Mittag“ einen Bericht wert, dazu eine Live-Schaltung in die Schladminger Fußgängerzone. Hätte nur noch gefehlt, dass in der Stadtpfarrkirche eine Messe gelesen worden wäre.
Alles ist relativ
Tatsache ist: Eine Innenbandverletzung ist eine von der Sorte, die noch am leichtesten ausheilt angesichts dessen, was es alles an Knieverletzungen geben kann. Marlies Schild kann ein traurig’ Liedlein davon singen, hatte sie doch schon in Jugendjahren insgesamt fünf Kreuzbandrisse (Pause jeweils mindestens sechs Monate); dazu einen Trümmerbruch in Schien- und Wadenbein im Oktober 2008.
Nun also das Innenband, das am 21. Dezember operativ geflickt worden war. In den letzten zwei Wochen habe sich schon abgezeichnet, dass es doch noch etwas werden könnte mit dem WM-Start. „Das war ein bisserl eigenartig, weil ich eigentlich mit der WM schon abgeschlossen hatte.“
Marlies Schild bleibt auch in Gedränge ihrer Jünger ganz sie selbst. Sie freut sich, dass sie „endlich wieder coole Schwünge in den Hang ziehen“ kann, ein „Geschenk“ sei das. Sie hebt sich dabei ab von der hyperventilierenden Meute, die sie umringt, und sagt: „Wie schnell ich bin, weiß ich nicht.“
Sechs Trainingstage
Dank des persönlichen Startrechts als amtierende Weltmeisterin konnten Trainer und Marlies Schild entspannt die Rückkehr angehen – sie nahm ja niemandem den Startplatz weg.
Und so wird die Wahl-Tirolerin am Sonntag neben Nicole Hosp, Schwester Bernadette, Michaela Kirchgasser und Kathrin Zettel im Starthaus an der Planai stehen – umzingelt von der Hysterie.
Für uns alle ist es eine Überraschung, dass Sie jetzt hier sitzen und sagen, Sie können die WM bestreiten. Ist das für Sie auch eine Überraschung?
Schild: Ja, schon. Aber es hat sich in den letzten zwei Wochen doch immer mehr herauskristallisiert, dass es eventuell doch gehen wird. Aber als ich vor gut zwei Wochen das erste Mal auf den Skiern gestanden bin, war es schon ein bisschen eigenartig, weil ich eigentlich schon damit abgeschlossen habe. Großen Dank an das ganze Team, meine ganzen Betreuer, Therapeuten, Ärzte, Trainer, die sich alle brutal den Kopf zerbrochen haben, wie ich am besten wieder in Form komme und fit werde. Es hat super funktioniert. Ich freue mich wahnsinnig, dass ich jetzt da bin.
Bei wie viel Prozent sind Sie jetzt angelangt?
Schwer zu sagen. Das Wichtigste ist, ich stehe am Start und habe keine Schmerzen und habe das Gefühl, ich kann voll attackieren. Ich denke gar nicht an das Knie, es geht alles perfekt. Das Schöne ist, dass ich wieder großen Spaß dran habe, dass ich mich wohlfühle und freue. Das ist das Wichtigste momentan, nicht die Prozente. Einfach drauf los fahren.
Haben Sie einen Vergleich mit Teamkolleginnen gehabt?
Ich habe schon ab und zu mit meiner Schwester (Bernadette, ebenfalls für WM nominiert/Anm.) trainiert, aber ich habe da jetzt nicht das Augenmerk drauf gelegt, weil es einfach wichtig ist, locker Ski zu fahren und das was momentan möglich ist, rauszuholen. Es ist ein Geschenk, dass ich da sein darf, dass ich bei der WM starten darf. Ich freue mich darauf, dass ich die Möglichkeit kriege, meinen Titel zu verteidigen.
Wie sind Ihre Erwartungen für Samstag?
Es gibt keine Erwartungen. Ich bin über zwei Monate kein Rennen gefahren, das macht es nicht leichter. Ich freue mich einfach, dass ich bei der Heim-WM am Start sein darf. Ich hoffe, ihr freut euch und die Zuschauer auch. Ich freue mich auf die gute Stimmung. Alles was passiert ist eine Draufgabe. Egal was passiert.
Ist es einfach Freude, oder ist auch ein bisschen Nervösität dabei?
Mir geht es gut. Ich bin noch nie zu einer WM hingefahren mit so wenig Druck wie heuer. Demnach geht es mir gut. Natürlich werde ich nervös werden, aber eher, weil ich nach so langer Zeit wieder einmal am Start stehe. Aber die Freude überwiegt - und das ist schön.
Sie waren in Ihrer Karriere so oft verletzt. Hat Ihnen das beim Umgang mit dieser Verletzung geholfen?
Ja, natürlich. Ich habe mir natürlich schon leichter getan, das Ganze einzuschätzen. Das hat mir in dieser Situation sehr viel geholfen. Ich kann natürlich vergleichen, wie es mir geht. Und ich kann auch, wenn ich Schmerzen habe, das Ganze besser einschätzen als einer, der noch nie was gehabt hat. Obwohl es natürlich besser wäre, wenn man noch nicht so viel gehabt hätte. Ich habe gemerkt, dass jeder Schritt nach vorne, den ich gemacht habe, sehr positiv war und dass nicht großartig Probleme da waren. Ich habe das dankbar genommen.
Können Sie Ihr Wechselbad der Gefühle beschreiben, denn unmittelbar nach der Operation konnten Sie ja nicht einmal sagen, ob Sie überhaupt weitermachen.
Als wir die Pressekonferenz in Innsbruck gemacht haben, war für mich die ganze Saison abgeschlossen. Und eventuell auch die Karriere abgeschlossen. Aber ich habe ein paar Tage später gemerkt, es ist eine andere Situation, ich kann meinen Muskel anspannen, ich kann schon ein bisserl was machen. Mein ganzes Team hat sich den Kopf darüber zerbrochen, wie man das Maximum rausholen kann. Und wie wir uns ans Limit tasten können. Das war für mich sehr schön und gut, weil ich mir selber nicht viele Gedanken habe machen müssen. Sondern einfach nur meine Sache machen musste. So gesehen ist alles perfekt gelaufen.
Was waren die Schritte?
Nach zwei, drei Wochen wurde gesagt, fifty fifty, dass es geht. Und die Prozente, dass es geht, sind dann immer mehr geworden. Das war ein gutes Gefühl.
Wann reifte dann die Hoffnung, dass es sich ausgehen könnte?
Nicht so schnell, wie ihr geschrieben habt (lacht), aber so vor einer Woche habe ich gemerkt, ich mache Fortschritte. Ich habe gemerkt, das könnte gehen.
Sie fühlen sich so stabil am Ski, dass Sie keine Befürchtungen haben, mit dem Start ein gesundheitliche Risiko einzugehen?
Ich habe vor meinen ersten Skiversuchen schon viel darüber nachgedacht. Ich habe beim Training versucht, mehr Druck zu machen, wie das dann beim Skifahren ist. Das hat mir ein bisschen Kopfzerbrechen gemacht, ob das dann am Ski stabil ist. Ob es auch dann stabil ist, wenn die Piste schlechter wird. Ob ich Schmerzen habe, wenn es den Ski verzieht, ob es womöglich wieder reißen kann. Aber ich stehe jetzt am Start, habe absolutes Vertrauen, fühle mich wohl und verschwende absolut keinen Gedanken, dass da irgendwas nicht halten könnte oder würde.
Wann und wie begannen Sie mit dem Training?
Am Anfang durfte ich nichts tun, in der ersten Wochen habe ich ja auch noch Krücken gehabt. Ich habe dann gleich geschaut, dass ich aufs Handergometer gehe, fürs Herzkreislauftraining, dass ich da nicht nachlasse. Danach war jeden Tag Therapie angesagt. Was positiv war, ist, dass ich in den vergangenen Wochen Zeit hatte, mich vollkommen zu erholen. Ich habe natürlich geschaut, dass ich wieder fit werde, aber vom Kopf her bin ich total fit. Dass ich eine Kämpferin bin, weiß man. Und dass ich nichts anbrennen lasse, wenn ich irgendwo eine Chance sehe, weiß man auch. Ich kann extrem ruhig und ohne Druck in das Rennen gehen.
Ist die fehlende Rennpraxis ein Problem?
Das macht das Ganze nicht einfacher. Aber das ist eine Sache, die man auch mental versucht zu bewältigen. Ich bin so viele Rennen gefahren in meinem Leben und versuche, die guten Momente, das gute Gefühl herzuholen. Auch schon im Training. Ich hoffe, dass ich von meiner Lockerheit, mit der ich ins Rennen gehe, profitieren kann, als mit einem unguten Renngefühl aus den letzten Rennen. Ich habe im Training gleich ein gutes Gefühl bekommen, es sind momentan jeden Tag schon noch große Schritte nach vorn. Potenzial nach oben ist noch offen. Ich habe nur sechs richtige Slalomtrainingstage. Da gleich wieder voll am Punkt zu sein, ist nicht so einfach. Aber ich steigere mich von Tag zu Tag.
Man ist gewohnt, wenn Marlies Schild an den Start geht, will sie auch gewinnen. Wie wird das Samstag sein?
Ihr verkennt die Situation ein bisserl, das ist alles andere als einfach für mich momentan. Ich erwarte gar nichts. Ich sehe es als Geschenk, dass ich dabei sein kann. Es ist ein Versuch. Es wird nicht einfach werden. Ich probiere mit dem Spaß, den ich jetzt beim Skifahren wieder habe, das Rennen zu fahren. Alles was dabei rauskommt, und egal, was es ist, ist eine Draufgabe. Denn abgehakt habe ich es ja schon gehabt. Es war klar, wenn ich das Rennen fahre, dann ohne Druck.
20. Dezember 2012: Marlies Schild kommt beim Einfahren vor dem Weltcup-Slalom in Aare zu Sturz und verletzt sich am rechten Knie. Sie muss auf das Rennen verzichten und tritt die Heimreise an.
21. Dezember 2012: Die Diagnose lautet Riss des Innenbandes im rechten Knie. Schild wird im Innsbrucker Sanatorium Kettenbrücke von Dr. Gernot Sperner und Dr. Karl Golser operiert. Es heißt, sie muss etwa drei Monate pausieren.
22. Dezember 2012: Schild hat die WM und die Saison abgehakt. Sie schließt in der Pressekonferenz in Innsbruck auch ein Karriereende nicht aus. "Es ist noch nicht die Zeit, um konkret darüber nachzudenken. Ich möchte wieder topfit werden, der Rest muss sich dann ergeben."
21. Jänner 2013: Der Österreichische Skiverband gibt den erweiterten Kader für die WM in Schladming bekannt. Darunter befindet sich auch Marlies Schild, womit die Spekulationen um einen möglichen WM-Start beginnen.
27. Jänner 2013: ÖSV-Sportdirektor Hans Pum erklärt in Kitzbühel, dass Schild derzeit trainiere, um bei der WM dabei zu sein. "Dafür muss sie das Unmögliche möglich machen."
30. Jänner 2013: Marlies Schild steht auch auf der endgültigen ÖSV-Nennliste für Schladming. Der Heilungsverlauf ist weit besser als prognostiziert.
31. Jänner 2013: Der ÖSV gibt per Pressemitteilung bekannt, dass Schild wieder auf Skiern steht. "Ich habe in den letzten Tagen meine ersten Versuche auf Schnee hinter mich gebracht", wird die Salzburgerin zitiert. Nach intensiven Therapie- und Reha-Einheiten sollen die ersten Schwüngen vielversprechend aussehen. Und das Knie hält.
1. Februar 2013: Schild absolviert in Dienten am Hochkönig (Salzburg) freies Skitraining ohne Tore, immer mit dabei ist Trainer Stefan Bürgler.
8. Februar 2013: Schild hat bereits zwei Trainingseinheiten mit Slalomstangen hinter sich. "Sie fährt ganz gut. Das Knie macht weniger Probleme, dafür zwickt's im Kreuz", sagte ÖSV-Techniktrainer Günter Obkircher.
11. Februar 2013: Der ÖSV lädt für den übernächsten Tag zu einer Pressekonferenz nach Dienten ein, dort wird Schild nach dem Training ihre Entscheidung bekannt geben. Sie hat mittlerweile auch in Hinterreit und damit erstmals auch auf steilerem Gelände trainiert.
13. Februar 2013: Marlies Schild erklärt, dass sie ihren WM-Titel verteidigen wird. "Es ist ein Geschenk", sagt die Saalfeldnerin. Sie ist schmerzfrei.
16. Februar 2013: WM-Slalom der Damen in Schladming (10.00/13.30 Uhr) mit Marlies Schild.
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