Box-Sensation: Joshua verliert gegen Usyk und alle seine Titel
Die Boxwelt verneigt sich vor dem neuen König der Schwergewichtsklasse: Oleksandr Usyk. Niemand war überrascht von der technischen Überlegenheit, Präzision und der Schnelligkeit, mit der Usyk seinen Gegner Anthony Joshua bearbeitete. Und doch starrten selbst Boxexperten in der Nacht von Samstag auf Sonntag ungläubig auf ihre Bildschirme. Die Dominanz, mit der Usyk den Briten und Schwergewichts-Weltmeister Joshua in seiner Heimat vorführte, war bemerkenswert.
Das erkannten auch die 60.000 Fans im Tottenham Hotspurs Stadium, die zu Beginn noch die ukrainische Hymne ausbuhten, doch am Ende ehrfürchtig dem neuen Schwergewichtschampion Respekt zollten. Diesen Respekt konnte jeder auch in den Augen von "AJ", wie Joshua genannt wird, sehen. Der 31-Jährige fand überhaupt nicht in den Kampf und selbst der Heimvorteil konnte daran nichts ändern.
Die letzten Momente als Champ
Stur und ohne auch nur einmal zur Seite zu blicken, ging Usyk seinen Weg beim Walk-in. Hinter einer Maske verbarg er seine Emotionen, die er auch ohne nicht gezeigt hätte. Hoch fokussiert stieg er in den Ring und wartete auf seinen Kontrahenten, der zum Song "No easy way out" jede Sekunde des Einmarsches genoss. Vielleicht ließ sich "AJ" absichtlich sehr viel Zeit beim Einlauf, weil er bereits ahnte, was ihn wenige Minuten später im Ring erwarten wird. Die letzten Augenblicke mit den vier Weltmeisterschaftsgürteln im Rücken. Die letzten Momente als Champ.
Mit "Let's get ready to rumble" heizte Ringsprecher Legende Michael Buffer das 15 Grad kühle ausverkaufte Stadion im Herzen Londons noch einmal ordentlich auf. Die Fans tobten, als ihr "AJ", der ganze Stolz Englands, wie Buffer ihn beschrieb, seine weiße Robe auszog und sich in der Ringmitte positionierte. Immer wieder suchte er den Kontakt zu seinen Fans, schaute ins Publikum und lachte. Ihm gegenüber stand das genaue Gegenteil. Usyk fixierte "AJ" mit seinen eindringlichen Augen, konnte es kaum erwarten, endlich zu boxen und startete dementsprechend in den Kampf. Die zwei Olympiasieger von 2012 zeigten einen erstklassigen hochspannenden 12 Runden-Kampf im Schwergewicht.
12 Runden Box-Kunst
Das typische Abtasten wie in jedem Kampf dauerte nicht lange. Entgegen der Erwartungen begann der Rechtsausleger Usyk schneller als sonst Druck aufzubauen. Der orthodox kämpfende Titelverteidiger bringt nicht nur in den ersten paar Runden zu wenig oft seine starke Rechte, auch von Kombinationen und der Beinarbeit war nichts zu sehen. Viele interpretierten die halbherzig geschlagenen Jabs von "AJ" als Furcht vor Konterschlägen.
In Runde drei verschwand das Lächeln aus dem Gesicht von "AJ", als ihn zum ersten Mal ein harter Schlag aus dem Nichts traf. Erst in Runde fünf wurde Weltmeister „AJ“ langsam spritziger auf den Beinen und in seinen Schlägen und fügte Usyk ein kleines Cut unter dem rechten Auge zu. Vor dem Ende der sechsten Runde blitze sein eigentliches Können auf, als er mit seiner berühmten Rechten Usyk nach einem Konter traf. Das war die bislang beste Runde für Joshua. Usyk antwortete darauf mit einer harten Linken gleich zu Beginn der nächsten Runde, die "AJ" wieder aus dem Konzept brachte.
350 Amateurkämpfe
In seiner Amateurkarriere bestritt der noch ungeschlagene Usyk über 350 Kämpfe – siebenmal mehr als Anthony Joshua und von diesen Erfahrungen profitiert Usyk natürlich ungemein.
Bevor sein Gegner auch nur einen Treffer landen kann, schlägt Usyk drei. Viele Schläge sieht man kaum kommen und schon kleben sie in "AJs" Gesicht. Der berühmte Box-IQ des Ukrainers, der Anatolij Lomatschenko in seiner Ecke hat, ist enorm. Seine Fäuste sind wie Magnete, die immer wieder automatisch den Körper oder Kopf des Gegners finden.
Geschickte Körpertäuschungen und Bewegungen machen es „AJ“ schwer sein Ziel zu treffen. Aus seiner Ecke sind immer wieder die gleichen Worte zu hören: „Benutze deine Beine“ und "Genial" (Engl. "brilliant"), letzteres dient wohl dazu, Joshuas Selbstvertrauen zu stärken. Das wurde nämlich in Runde 10 wieder zermürbt, als er einen Schlag kassierte und sich eine Schwellung unter dem rechten Auge abzeichnete. Doch auch bei Usyk zeigten das hohe Tempo und die Treffer von "AJ" seine Wirkung, die Cutmänner hatten in der Rundenpause viel Arbeit mit den Schwellungen.
Usyk startet mit einer beeindruckenden Vierer-Kombination in Runde elf und zeigte seine starke Kondition. Bei jedem Schlag wird "AJ" sofort ausgekontert. Usyk war sehr stark in dieser Runde, AJ musste klammern und wirkte müde. Er konnte seinen Gewichts- (8 kg), Größen- (7 cm) und Reichweitenvorteil (10 cm) bis zur letzten Runde nicht nutzen. Auch die Kraft und Power fehlten und Fans warteten vergeblich auf den berühmten Uppercut, mit dem er schon Wladimir Klitschko die Seele herausschlug.
Davon war dieses Mal leider nichts zu sehen und Anthony Joshua verlor zum zweiten Mal in seinem Leben alle Schwergewichts-Titel.
Es war dennoch ein aufregender Boxkampf mit Stil, den die drei Kampfrichter nach Punkten zurecht für den Ukrainer entschieden.
"Der bessere Mann hat heute Abend gewonnen", sagte Boxpromoter Eddie Hearn nach dem Kampf und sprach auch gleich von einem potenziellen Rückkampf. Wo Usyk seine neuen Gürtel aufhängen wird ist noch fraglich, denn an der Decke über seinem Bett ist längst kein Platz mehr.
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