Schüssel: "Wir müssen unsere Wertvorstellungen verteidigen"
KURIER: Die Anschläge vom 11. September 2001 sind eines jener Ereignisse, bei denen sich fast jeder erinnern kann, wo er damals gerade war. Sie hatten an jenem Nachmittag eine Besprechung im Bundeskanzleramt zur Verwaltungsreform – was sind Ihre Erinnerungen?
Wolfgang Schüssel: Wir waren im kleinen Ministerratszimmer und sind gerade, wie Sie richtig gesagt haben, mit einer internationalen Beratungsfirma die Verwaltungsreform durchgegangen – eines der großen Projekte unserer Regierung, Stichworte: Zusammenlegung Polizei/Gendarmerie, 17 % Dienstposteneinsparungen, 8 Mrd. Kosteneinsparung, E-Card u. v. m. Plötzlich sind wir ins Nebenzimmer, das alte, holzgetäfelte Kanzler-Zimmer, wo heute wieder Sebastian Kurz sitzt, gerufen worden, wo das Fernsehgerät stand.
Dort haben wir dann stundenlang die atemberaubenden Livebilder aus New York gesehen – das erste Flugzeug war schon gegen den Turm geflogen, wir haben dann das zweite Flugzeug hineinfliegen gesehen. Man weiß ja bis heute nicht genau, was alles noch im Visier der Terroristen war – möglicherweise auch das Kapitol oder das Weiße Haus; eine Maschine ist ja abgestürzt oder abgeschossen worden, auch das weiß man nicht …
Damals dachte man ja noch nicht sofort an einen Terroranschlag, wie das heute bei so einem Vorkommnis wohl der Fall wäre …
Beim ersten Flugzeug hätte es tatsächlich auch ein Unfall sein können; aber mit dem zweiten Flugzeug war klar, dass das eine gesteuerte Aktion war; der Angriff auf das Pentagon hat das dann noch einmal verdeutlicht. Die Amerikaner haben ja auch sofort reagiert und den „War on Terror“ ("Krieg gegen den Terror"; Anm.) ausgerufen und zum ersten Mal in der Geschichte der NATO den Artikel 5, den Bündnisfall, aktiviert. Auch die Europäer haben diese Dramatik sofort erkannt: Es hat keinen Rat der Außen-, Innen- oder Verteidigungsminister mehr gegeben, wo man nicht über diesen Kampf gegen den Terror gesprochen hätte. Es war klar, dass wir genauso wenig sicher sind wie New York. Fanatiker können den Terror in jeden Winkel der Erde tragen.
Inwieweit hat 9/11 die Welt, die westlichen Gesellschaften verändert?
Es gab sehr viele Investitionen in die Sicherheit. Auch in Österreich haben wir massiv in Polizei, in Überwachung, in Früherkennung investiert – in Kooperation mit anderen Ländern natürlich. Das alles war damals erst in den Kinderschuhen, heute ist das selbstverständlich. Und man kann keineswegs sagen, dass das erfolglos war: Durch diese Maßnahmen konnten sicherlich Dutzende, wenn nicht noch mehr Terroranschläge verhindert werden. Heute haben wir wesentlich effizientere Methoden bei der Terrorbekämpfung, und die sind auch notwendig, wenn wir in einigermaßen gesicherten Verhältnissen leben wollen.
War 9/11 ein Anschlag auf die westliche Wertegemeinschaft?
Ja, das war sicher so gemeint – aber es hat auch Anschläge in China, Russland, der Türkei gegeben. Es geht, glaube ich, um ein anarchisches Ziel, ein fanatisch-religiöses Gewaltpotenzial. Das gibt es nicht nur im Islam, aber im Islamismus bündelt sich jedenfalls einiges. Daher ist es ganz wichtig, die moderaten Kräfte im Islam, die eine friedliche und gewaltfreie Welt wollen, zu unterstützen. Das ist auch einer der Gründe, warum Österreich – etwa im Rahmen seiner EU-Präsidentschaften – stets den Dialog der Religionen in den Vordergrund gerückt hat.
Den interreligiösen Dialog führen meist jene, die ihn sozusagen nicht notwendig hätten – und die, um die es eigentlich ginge, sind nicht dabei …
Das ist schon richtig. Aber es geht ja darum, dass man nicht zulassen darf, dass Gewalt im Namen der Religion gutgeheißen wird. Wenn sich also religiöse Führer aus Bosnien, Syrien oder Ägypten an diesem Dialog beteiligen, dann ist das auch ein Signal für die Muslime in aller Welt: Das ist nicht unsere Religion, das ist eine Verirrung. Das war ja auch die Idee des KAICIID (König-Abdullah-Zentrum für interreligiösen und interkulturellen Dialog; Anm.), das ja leider aus Österreich weggegangen ist. Auch die Bemühungen von Hans Küng (Schweizer kath. Theologe; Anm.), der im Auftrag von Kofi Annan (ehem. UN-Generalsekretär; Anm.) sein „Weltethos“ entwickelt hat, gehören hier her. Friede ist nicht möglich ohne Friede zwischen den Religionen – und ohne verbindliche globale ethische Normen.
Sie haben gesagt, im Islamismus bündle sich einiges an religiösem Gewaltpotenzial. Wieviel Islam steckt im Islamismus?
Bei den Taliban und ähnlichen Gruppen gibt es eine offensichtliche Verirrung einer religiösen Motivation. Aber ähnliche Tendenzen gibt es auch in anderen Religionen – denken Sie nur an Gewaltausbrüche in buddhistisch geprägten Teilen der Welt. Deswegen ist eben der Dialog der Religionen so wichtig. Das hat Papst Benedikt gewusst, das hat Papst Franziskus genauso auf seiner Agenda – und das gilt auch für Führer anderer Religionen. Das ist freilich nur die eine Seite. Die andere ist, dass sich die einzelnen Staaten und die EU rüsten müssen. Man darf nicht naiv sein. Man muss mit entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen unsere Wertvorstellungen, unsere Gesellschaften verteidigen. Die Konflikte werden nicht weniger werden.
Wie sehr hat der 11. September unser Verhältnis zum Islam verändert?
Man darf nicht generalisieren. Der Religionssoziologe Paul M. Zulehner etwa hat Studien veröffentlicht, die zeigen, dass die Ablehnung von islamistischem Terror auch unter in Europa lebenden Muslimen extrem hoch ist. Trotzdem darf man die Gefährdungen in keiner Weise bagatellisieren. Es gibt sicherlich eine gewisse Sensibilisierung in der Bevölkerung. Die wird durch die zunehmende Gewaltbereitschaft in manchen Gruppierungen etwa bei Tschetschenen, Afghanen oder Marokkanern – auch wenn das immer Minderheiten sind – klarerweise befördert.
Inwieweit hat der Terror von 9/11 und seither Islamskepsis und -feindlichkeit, Ablehnung von Migration generell befördert?
Man muss aufpassen, dass man nicht alles vermischt: Terror, Fluchtbewegungen, Migration. Aber dass die Sensibilität gestiegen ist, stimmt sicher – und gottseidank ist sie gestiegen.
Ist nur die Sensibilität gestiegen – oder nehmen Sie auch verstärkt Ressentiments gegenüber Migranten, insbesondere muslimischer Prägung, wahr?
Das hat aber nichts mit dem Terror an sich zu tun. Sondern das hängt mit den Ereignissen seit 2015 zusammen. Wir hatten eine massive Zuwanderung von – zunächst illegalen – Migranten, die beträchtliche Sorgen und demzufolge auch Abwehrreflexe geschürt hat. Das ist eine völlig verständliche Reaktion, und deswegen hat die österreichische Regierung ihre Lehren daraus gezogen. Auch wenn das manchen nicht gefällt, wie etwa dem luxemburgischen Außenminister Asselborn, über den man sich nur wundern kann. Im Übrigen ist er beim letzten Außenministerrat völlig alleingeblieben, während manche österreichische Journalisten ihn ständig als einen der spannendsten Europäer propagieren. Unbestritten ist, dass wir legale Möglichkeiten der Zuwanderung brauchen. Aber jede Form der illegalen Migration ist abzulehnen.
Das heißt, Sie unterstützen die Linie der Regierung bzw. der ÖVP in dieser Frage …
Nachdem wir bis zu den jüngsten Ereignissen mehr Afghanen aufgenommen haben als die Amerikaner und die Briten zusammen, brauchen wir hier wirklich keine Ratschläge von außen. Das heißt nicht, dass man nicht in der Zukunft für bestimmte Gruppen – Menschenrechtler, Journalistinnen, die in Afghanistan nicht mehr arbeiten können – in Europa Plattformen entwickeln, von denen aus sie in ihr Heimatland hineinwirken können. Aber darüber kann man nicht jetzt, zwei Wochen nach der Machtübernahme der Taliban, reden, sondern das muss sich auf europäischer Ebene entwickeln.
Halten Sie demnach den Vorschlag von SPÖ-Chefin Rendi-Wagner, einige besonders im Visier der Taliban stehende Gruppen auf dem Land herauszuholen, für überlegenswert?
Nein, weil ich nichts davon halte, dass jetzt lauter einzelne, nationale Strategien entwickelt werden. Jetzt muss sich das alles einmal setzen, jetzt müssen die Länder, die ihre Kooperationspartner zum Teil noch in Afghanistan haben, eine gemeinsame Vorgangsweise finden. Ich bin Kuratoriumsvorsitzender der Adenauer-Stiftung – wir haben dieser Tage unser Büro in Afghanistan über den Landweg evakuieren können. Auf solche Dinge kommt es jetzt an, nicht auf innenpolitisch motivierte Zurufe von wem auch immer.
Österreich befinde sich mit seiner restriktiven Flüchtlingspolitik mit Ungarn und Slowenien in einer wenig respektablen minoritären Allianz, wird von manchen kritisiert …
Das kommt alles von Leuten wie Asselborn, der dann von österreichischen Medien begeistert zitiert wird. Ich kann mich erinnern, wie 2015 Asselborn mit dem damaligen sozialdemokratischen EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz in einem Privatflieger nach Griechenland geflogen ist und dort medienwirksam einige Flüchtlinge eingesammelt und erklärt hat, wie großartig Luxemburg als Vorbild sei, weil es 20 Flüchtlinge aufnehme. Später hat man erfahren, dass ein Teil davon gleich in andere Länder weitergezogen ist …
Zurück zur geopolitischen Ebene: 20 Jahre nach 9/11 ziehen sich die USA wenig ruhmreich wieder aus Afghanistan zurück. War der „Krieg gegen den Terror“ insgesamt ein Fehlschlag?
Ich bin kein Anhänger von martialischen Ausdrücken wie „Krieg gegen den Terror“. Aber sicher ist, dass, wie schon erwähnt, die Abwehrmechanismen gegen Anschläge in diesen 20 Jahren wesentlich verbessert werden konnten. Und es ist seit 2001 immerhin von Afghanistan kein Terroranschlag mehr ausgegangen. Das heißt natürlich nicht, dass die Sache jetzt zum Schluss gut gelaufen ist. Man sollte hier aber die Schuld nicht nur bei Joe Biden suchen, das hat man auch Donald Trump zu verdanken. Evident ist trotzdem, dass der Kampf gegen den Terror ernster als früher genommen wird – und das ist gut so.
Einmal mehr wird jetzt auch angesichts der Umstände des Abzugs aus Afghanistan eine größere militärische Eigenständigkeit der EU eingemahnt. Diskutiert wird darüber seit Jahrzehnten, passiert ist wenig – wird es diesmal anders sein?
Armin Laschet (CDU-Kanzlerkandidat; Anm.) hat kürzlich in einer Diskussion gesagt, eine der Lehren aus Afghanistan müsse sein, dass die EU auch ohne Unterstützung der USA einen Flughafen schützen kann, um etwa die eigenen Leute herauszubringen. Wir haben EU-Battlegroups, die auf dem Papier existieren, aber nicht in der Praxis – die müssten so etwas können. Die EU kann sich nicht länger hinter dem breiten Rücken der Amerikaner verstecken, auf die man sich, wie man sieht, auch nicht immer verlassen kann. Man muss schon, wie der französische Präsident Macron gemeint hat, eigenständig agieren können. Da kann und soll es nicht um Kriegsführung gehen – aber Friedenssicherung, Schutz der Außengrenze gehört da sicher dazu, das ist absolut zwingend.
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