Wolfgang Schüssel: "Hatte bei Ibiza ein Déjà-vu"
KURIER: Herr Schüssel, Ihr neues Buch trägt den Titel „Was. Mut. Macht“. Sie fordern zu mehr Optimismus auf. Jammern wir auch in der Krise noch auf hohem Niveau?
Wolfgang Schüssel: Ich bin so alt wie die Republik und rückblickend gesehen: Es gab immer Krisen, die noch viel ärger waren. Denken Sie nur an Leopold Figl, der für Kurt Schuschnigg die Volksabstimmung gegen Hitler am 12. März 1938 organisieren sollte. Enttäuscht musste er aufgrund der brutalen deutschen Drohungen die Absage zur Kenntnis nehmen. Einen Tag nach dem deutschen Einmarsch wurde Figl verhaftet. Sechs Jahre verbrachte er in verschiedenen Konzentrationslagern. Im Endkampf um Wien wurde er befreit und bald darauf von den Sowjets mit der Lebensmittelversorgung Wiens betraut: Für ganz Wien gab es eine Kuh. Ich war ein Kind mit zehn Jahren, als die Ungarn-Koalition von den Panzern niedergewalzt wurde. Damals standen plötzlich 20 Verwandte aus Sopron vor der Tür. Wir legten Matratzen auf, damit sie ein paar Monate bei uns wohnen. Es ging immer weiter, und Österreich hat die Lektionen aus diesen Krisen stets umgesetzt. Dadurch sind wir stärker geworden. Man soll sich nicht davon beeindrucken lassen, wenn Populisten und Demagogen am Rand herumhüpfen und schreiben, dass wir in einem Tal des Jammers und der Tränen leben.
Wir sind im dritten Monat der Corona-Krise. Was sind die Lektionen, die die Politik daraus lernen sollte?
Die Lektionen sind schon sehr klar. In den EU-Verträgen steht drinnen: Gesundheitspolitik ist ausschließlich Sache der EU-Mitgliedslander. Das wird sich ändern. In der Frage der Schutzkleidung, der Vorsorge, der Beatmungsgeräte wird man künftig eine europäische Politik machen. Der zweite Teil ist die wirtschaftliche Krise, und die wird gewaltig sein. Obwohl die Länder derzeit zehn bis 15 Prozent ihrer Volkswirtschaft in die Bewältigung der Arbeitslosigkeit und Wirtschaftshilfen hineinbuttern. Dann werden die Staatsschulden enorm ansteigen, wir werden zehn Jahre benötigen, um das Staatsbudget wieder solide aufzustellen.
Aber wer denkt jetzt schon global? Derzeit findet ein Revival der Nationalstaaten...
Das war am Beginn der Krise so. Die EZB blast jetzt ein Anleihenprogramm von 900 Milliarden Euro auf, der ESM hat 400 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Das EU-Budget wird nicht eine Billion Euro, sondern 1,5 bis 1,7 Billionen Euro ausmachen. Ein großer Teil davon wird zweckgebunden für die Coronabekämpfung sein und der Wiederaufbaufonds nimmt Gestalt an.
Waren Sie über den Merkel-Macron-Plan überrascht, der eine Abkehr von der deutschen Politik ist?
Es ist ein recht interessantes Konzept, das die beiden vorgelegt haben. Im Gegensatz zu den Corona-Bonds haftet nicht jedes Land für die gesamte Summe, sondern nur für den jeweiligen Prozentanteil. Das sind für Österreich 2,7 Prozent und für die Deutschen ein Viertel. Dazu wird das Geld in einer doppelten Konditionalität vergeben. Einerseits in der zweckgebundenen Verwendung der Mittel und gebunden an innere Reformen. Die Italiener hatten vor der Krise schon hohe Schulden, die 135 Prozent des BIP ausgemacht haben. Vor der Corona-Krise haben sie das Pensionssystem aufgemacht, ein Mindesteinkommen eingeführt und damit die Schuldenquoten nochmals erhöht.
Wenn Sie dieses Konzept befürworten, warum wehrt sich Sebastian Kurz gegen den Merkel-Plan?
Die sparsamen vier haben berechtigte Alternativen auf den Tisch gelegt. Aber auch der Plan der EU-Kommission, dass man nicht die Mitgliedsländer zur Finanzierung dieser Anleihe heranzieht, sondern eine neue Eigenmittelquelle vorschlägt, mit Digital-, Plastik- oder -Steuer, finde ich gut. Gott sei Dank, gibt es in Europa unterschiedliche Meinungen . Wir sind nicht nur Applaus-Jünger.
Wie gut befreundet sind Sie mit Merkel und wie tickt die Kanzlerin?
Wir haben gemeinsam viele Opern besucht, haben nächtelang diskutiert. Wir treffen uns alle zwei Monate im Kuratorium der Konrad Adenauer-Stiftung . Sie ist eine Ausnahmepolitikerin. Was sie im Unterschied zu Helmut Kohl ausmacht, ist, dass Merkel in Ostdeutschland sozialisiert wurde. Sie hat gelernt, damit zu leben, dass man mit seiner Meinung möglicherweise alleine gegen alle steht. Da muss man in manchen Beziehungen sehr vorsichtig sein, denn es ist riskant, politische Meinungen zu haben.
Merkel ist eine Naturwissenschaftlerin und ich bin ein Jurist. Sie sucht nach Lösungen und Juristen suchen nach Fehlern. Allein, wenn man denkt, wie oft Merkel schon politisch totgesagt war. „Sie muss weg“, haben mir viele Freunde gesagt. Meine Antwort war: „Ihr werdet Merkel noch nachweinen“. Jetzt ist sie wieder ganz oben auf. Sie macht das gut, weil sie uneitel ist und stets der Sache ihre Kraft widmet. In einem Interview hat sie einmal erklärt, dass sie solange öffentlich nichts sagt, bis sie eine Sache durchblickt hat. Das gefällt mir.
Weil Sie selbst als Schweigekanzler galten…
Natürlich. Denn es muss doch erlaubt sein, kurz nachdenken zu dürfen oder sich mit anderen Menschen auszutauschen, was dahinter steckt, bevor man ein öffentliches Statement abgibt. Dieses Verhalten sollte man nicht pönalisieren.
Sehen Sie einen Staatschef, der die Rolle in der EU von Angela Merkel künftig übernehmen könnte?
Jeder, der in eine solche Kategorie kommt, hat seine Qualitäten. Das ist die Champions League. Emmanuel Macron ist ein ausgezeichneter Präsident, der die Redekunst perfekt beherrscht. Oder der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, der mit einer sehr schwierigen Fünf-Parteien-Koalition regiert. Aber auch die dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen ist sehr interessant, weil sie eine konsequente Haltung in der Migrationsfrage hat und auf der anderen Seite sehr moderne gesellschaftspolitische Reformansätze bringt.
Sie schreiben im Buch, dass Sie es schade finden, dass eine ÖVP/Grüne-Koalition vor 17 Jahren nicht zustande kam. Wie hätte das Österreich verändert?
Das war eine faszinierende Chance. Mein ganzes Team war für diese Koalition. Nachdem Knittelfeld die erfolgreiche Koalition gesprengt hatte. Das waren mit Strache, Gudenus und Kickl übrigens die gleichen, die heute Ibiza zu verantworten haben. Insofern hatte ich bei Ibiza ein Déjà-vu und es hat mich nicht überrascht, was hier passiert ist. Alexander Van der Bellen, Eva Glawischnig, Madeleine Petrovic waren dafür, selbst der Peter Pilz war nicht abgeneigt. Die Führung wollte, aber zwei Drittel der Bundesversammlung blieben die ganze Zeit über skeptisch.
Werner Kogler hat beim Bundeskongress im Jänner sehr ehrlich gesagt: „Ich habe 2003 das erste Radio-Interview zum Abbruch gegeben. Je mehr Jahre vergangen sind, desto weniger sicher war ich, ob das g’scheit war. Ich weiß es bis heute nicht“. Die Zeit war damals noch nicht reif. Das spannende an dieser Koalition ist damals wie heute, dass eine Mitte-Partei wie die ÖVP, die viele verschiedene Wurzeln hat, auf die Grünen stößt, die gesellschaftspolitisch sehr reformerisch, zugleich aber auch bewahrend in Umweltfragen und etatistisch auftritt. Auch heute ist es noch ein spannender Versuch.
Alexander Van Bellen hat in einem Kommentar das Gedankenspiel gewagt, was sich in Österreich verändert hätte, wäre diese Koalition 2003 zustande gekommen. Er meinte, dass sie dann EU-Kommissionspräsident statt José Manuel Barroso geworden wären.
Das ist "hätti, wari, täti“. Für mich war es eine Ehre, dass ich für die Nachfolge von Romano Prodi genannt wurde. Ich bin zwei Mal von den Franzosen blockiert worden und habe es sehr sportlich genommen. Das ist eben die Champions League. Ich habe es mit einem Achselzucken hingenommen, dass ich es nicht geworden bin. Meine Tochter hat immer gesagt, sei froh, denn das hat dir zehn unbeschwerte Lebensjahre geschenkt.
Sie haben Knittelfeld angesprochen. Haben Sie Jörg Haiders Wankelmut als Gefahr für die ÖVP/FPÖ-Koalition damals unterschätzt?
Nein, ich kannte Haider seit den 1970er Jahren. Er hat als Linksliberaler begonnen. Das hat auch Kreisky sehr fasziniert. Auch er hat mit Haider geliebäugelt und hat ihn immer wieder an sich herangelassen. Haider war eine politische Begabung. Er hat mit vielen Impulsen den Kampf gegen den Schlendrian, gegen den Proporz, gegen die Korruption aufgenommen. Er war auch ein glühender Europäer. Haider hat uns massiv kritisiert, dass wir nicht schon längst in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft drinnen sind. Als es dann ernst wurde, hat er gesehen, dass es einige Gegner gibt, die niemand betreut. Diese politische Marktlücke hat er dann besetzt. Er hatte seine Meriten und Erfolge gehabt. Haider hat mit den rechten Rändern geliebäugelt, obwohl er nie selbst ein Nazi war, aber er hat dankbar seine Unterstützung angenommen.
Wann haben Sie Jörg Haider das letzte Mal getroffen?
Das war drei Tage vor seinem Tod im Abgeordnetensprechzimmer im Parlament. Da saß er mir gegenüber und hat ausdrücklich gesagt: Er wird sich komplett ändern. Staatsmann ist das einzige, was in der heutigen Zeit zählt. Das war interessant.
Wäre es dazu gekommen? Wäre Haider nicht mehr auf der Anklagebank gesessen…
Ich lasse diese Dinge jetzt beiseite. Sein Unfalltod ist für mich fast schon ein antikes Schicksal, weil drei interessante Zufälle passiert sind. Der 10. Oktober ist in Kärnten der Tag der Volksabstimmung 1920 im Gefolge des Vertrags von Saint-Germain. Der Unglücksort, an dem Haider starb – die Ortschaft Lambichl – liegt ziemlich genau an der Grenze des Abstimmungsgebiets, das Jugoslawien 1919 für sich beanspruchte. Dazu kommt der Phaeton, der in der Antike vom Sohn des Sonnengottes Helios unerlaubterweise gelenkt wurde.
Am 11. Jänner 2007 verließen Sie den Ballhausplatz, mit einer Prise Wehmut, schreiben Sie im Buch. Was ist im Wahlkampf 2006 schief gegangen? Waren Sie sich zu siegessicher?
Da gab es mehrere Komponenten. Ich war unmittelbar nach der EU-Präsidentschaft körperlich einfach fertig. Die Präsidentschaft war damals anders als heute. Ich war alles: Ich war Ratspräsident, ich musste alle Gipfeltreffen selber machen. Es gab auch eine Fülle an Problemen zu bewältigen. Es blieb eigentlich keine Zeit mehr für die Innenpolitik. Wir haben uns aber zu sicher gefühlt, dass uns die Leihstimmen der FPÖ von 2002 erhalten bleiben. Außerdem habe ich vergessen, dass man jemand als Person braucht, der diese Themen Ordnung und Sicherheit abdeckt. Da hatten wir niemanden. Und zum ersten Mal sind die amerikanischen Spindoktoren aufgetreten, die die erfundene Geschichte über die falsche Pflegerin meiner Schwiegermutter lanciert haben. Alle Medien haben das übernommen. Meine Frau hat alle Prozesse gewonnen, aber da war die Wahl schon vorbei. Zwei dieser drei Gründe gehen auf meine Kappe. Es war eine schöne Zeit, aber ich habe die Tür auch wieder lächelnd zugemacht.
Karl-Heinz Grasser sitzt wegen des Vorwurfs der Untreue seit über zwei Jahren auf der Anklagebank. Seit über zehn Jahren läuft die Causa Buwog schon. Beobachten Sie den Prozess?
Ich halte die Länge des Verfahrens für einen Justizskandal. Das kann und darf sich so nicht wiederholen. Das ist für jeden Betroffenen, egal, ob das der Buwog-Prozess oder ein anderes Verfahren ist, unmenschlich und unzumutbar. Diesem Menschen wird Lebenszeit und die bürgerliche Existenz zerstört und niemand steht dafür gerade. Wenn so jemand frei gesprochen wird, bekommt man 5000 Euro Prozessentschädigung. Die Anwaltskosten bewegen sich aber im Bereich von mehreren Hunderttausend Euro. Das ist absurd. Aber das scheint niemanden zu stören. Es stört aber auch niemanden, dass offensichtlich gegen alle rechtsstaatlichen Vorkehrungen für ein faires Verfahren alles, was irgendwo bei einer Einvernahme ausgesagt wird, zwei Tage später im Falter steht. Für einen Rechtsstaat ist das eine Schande.
Apropos Schande: Wie erklären Sie sich, dass man Heinz-Christian Strache bei der Wien-Wahl die Chancen einräumt, rund fünf Prozent zu bekommen?
Es würde mich wundern, nach all dem was passiert ist, dass er in die Nähe eines Mandats kommt. Aber vielleicht bin ich da zu naiv.
Sie machen sich im Buch auch Gedanken zum Tod. Sie nennen es Übergang. Wie stellen sie sich den Übergang vor?
Ich bin neugierig. Genauso wie ein Embryo, wenn er die bequeme Fruchtblase verlässt und sich auf den schmerzhaften und brutalen Weg durch den Geburtskanal macht. Auf diesen Übergang bin ich neugierig. Ich denke nicht, dass dann alles aus ist. Es ist ein Übergang in eine andere Seinsform, die uns auch mehr Erkenntnisse bringen wird. Ich bin auch neugierig auf die Zusammenhänge, die sich dann erschließen.
Sie sind jetzt Großvater. Wie ist ein Wolfgang Schüssel als Großvater?
Milde, milde, milde. Es gibt das schöne Luther-Wort: „Wenn du ein kleines Kind siehst, hast du Gott auf frischer Tat ertappt.“ Meine Enkelin ist jetzt 3,5 Jahre alt. Es ist lustig, die Welt mit einem Kind neu zu entdecken. Ich habe meiner Enkelin eine Ostergeschichte gezeichnet und ein Alphabet-Buch hat sie schon von mir bekommen. Am Sonntag war ich mit ihr im Tiergarten, da haben wir den Babyelefanten angeschaut, der übrigens nicht mehr als Modell für die Distanz gelten darf, denn er ist 300 Kilo schwer und ist mit der Rüssellänge über zwei Meter groß.
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