Vom Wortklauben zum Werturteil: Die neue Macht der Verfassungsrichter
Er kann Präsidentschaftswahlen annullieren. Er urteilt über Grundrechtsfragen – vom Kopftuchverbot über die Homoehe bis zur passiven Sterbehilfe. Und wenn ein Ministerium seine Entscheidungen ignoriert, darf er den Bundespräsidenten zur Hilfe rufen: Der Verfassungsgerichtshof, kurz VfGH, ist eine der gewichtigsten Institutionen der Republik.
Aber wie mächtig sind sie wirklich, die 14 Damen und Herren auf der Wiener Freyung? Und hat ihr politisches Gewicht in den vergangenen Jahren nur gefühlt oder tatsächlich zugenommen?
Wer Fragen wie diese klären will, muss sich mit Menschen wie Andreas Janko unterhalten. Der Linzer Universitätsprofessor gilt als Verfassungsexperte. Und der These, wonach das politische Gewicht des VfGH zugenommen hat, kann er einiges abgewinnen.
„Diese Entwicklung hat bereits in den 1980er-Jahren begonnen“, sagt Janko. Bis dahin hatte sich der VfGH strikt an den Grundsatz des „Judicial Self Restraint“ gehalten. Diese „richterliche Selbstbeschränkung“ meint, dass Werthaltungen in den VfGH-Entscheidungen grundsätzlich kein Thema waren.
Gesetze wurden strikt am Wortlaut der Verfassung geprüft – und solcherart nur bei offenkundiger Unsachlichkeit als gleichheitswidrig eingestuft und aufgehoben.
International ging der Zug freilich schon früher in eine andere Richtung. „Man versucht viel stärker, die hinter einem Gesetz stehenden Interessen zu ermitteln und mit den Interessen der durch das Gesetz betroffenen Bürger abzuwägen. Nur wenn die Beschränkungen verhältnismäßig sind, hält das Gesetz“, sagt Janko. In diesem Punkt habe der VfGH international nachgezogen. „Er trifft jetzt auch Wert-Entscheidungen.“
Was da passiert ist, lässt sich am einfachsten an konkreten Fällen festmachen, etwa an der Ladenschlussdiskussion. Zu Beginn respektierte der VfGH zwar die mit restriktiven Öffnungszeiten verbundene Schutzfunktion für Handelsangestellte. Aber dass Geschäfte nur einmal im Monat am Samstagnachmittag öffnen durften, hielt er für eine übertriebene Beschränkung der Gewerbetreibenden. Es bedurfte in der Folge mehrerer Anläufe, bis eine aus Sicht des VfGH passende Abwägung gefunden war. Die ersten, zögerlichen Versuche landeten immer wieder beim VfGH und wurden ebenso aufgehoben wie die ursprüngliche Regelung.
Kurzum: Die Art und Weise, wie der VfGH über Gesetze befindet, hat sich verändert – und das hat sein politisches Gewicht erheblich vergrößert.
Negativer Gesetzgeber
Hinzu kommt: Als „negativer Gesetzgeber“ können die Höchstrichter zwar aktiv keine Gesetze machen. Aber allein der Umstand, dass sie Regeln aufheben dürfen, zwingt Politik und Gesellschaft zu politischen Entscheidungen.
„Ein gutes Beispiel ist das Pensionsalter von Mann und Frau“, sagt Janko. Politisch hätte man sich bei diesem Thema seinerzeit kaum auf eine Angleichung einigen können. „Aber dadurch, dass der VfGH die geltenden Regelungen als verfassungswidrig aufgehoben hat, musste der Gesetzgeber reagieren.“ Der VfGH kann die Politik also dazu drängen, unangenehme Themen anzupacken.
Und da geht es nicht allein um eine politische Diskussion von Bestehendem, sondern mitunter um neue Regelungen. So geschehen bei der passiven Sterbehilfe, wo die Politik dazu gezwungen ist, eine schwierige ethische Frage binnen eines Jahres gesetzlich neu zu lösen.
Limitiert ist die Macht der Verfassungsrichter durch die Verfassung selbst: Gesetze, die mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden, können selbst Verfassungsrang erhalten und sind damit für den VfGH – zumindest weitestgehend – tabu. Die Große Koalition hat das jahrzehntelang weidlich genutzt und in den späten 1980ern etwa selbst die vorher vom VfGH aufgehobene „Bedarfsprüfung für Taxi-Fahrer“ zum Verfassungsgesetz erhoben – man wollte keine Kontrolle durch Höchstrichter.
Das ist staatspolitisch nur mäßig elegant. Vor allem aber ist es mittlerweile kaum möglich. Zumindest nicht für die Regierung alleine. Denn die Koalitionen sind derzeit weit davon entfernt, im Parlament eine Zweidrittelmehrheit zu schaffen. Insofern hat der VfGH auch hier an Einfluss gewonnen.
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