2019: Wenn eine Bombe in die KURIER-Redaktion einschlägt

Die Affäre um das Ibiza-Video zieht immer weitere Kreise
17. Mai 2019: Was passiert in der KURIER-Redaktion, wenn ein Video mit exorbitantem Ausmaß öffentlich wird? Ein Blick hinter die Kulissen.

Es gibt zwei unbestätigte, wissenschaftlich nicht erwiesene Theorien über die Fragen, wann und wie Mega-Geschichten in einer Redaktion aufschlagen.

Erstens: Es ist immer der ungünstigste Zeitpunkt.

Zweitens: Es funktioniert trotzdem alles wie geschmiert, besser noch als an "normalen" Tagen.

Der 17. Mai 2019 hat beide Theorien wieder einmal bestätigt.

 

Fast Wochenende, Frühsommer

Erstens: Freitagabend ist generell kein günstiger Zeitpunkt für einen Skandal. Jene Kollegen, die im KURIER um 18 Uhr in der Abendkonferenz nochmals die Zeitungen des nächsten Tages besprechen, haben die gesamte Woche einen harten Dienst gehabt. Sie müssen die Seiten anderer Ressorts lesen und korrigieren. Das ist eine Herausforderung für Geist und Augen. Es ist ein wunderschöner Vorsommer-Abend mit Temperaturen von mehr als 25 Grad. Alle wollen raus, heim zu ihren Familien oder Freunden oder in einen Schanigarten.

Doch nicht nur das: Chefredakteurin Martina Salomon ist in Frankreich, Innenpolitik-Leiterin Daniela Kittner in Irland, ich selbst als Online-Chef bereits in meiner Heimatstadt Krems. Natürlich gibt es auch am Freitagabend Diensthabende: Die beiden stellvertretenden Chefredakteure Michael Jäger und Gert Korentschnig sind noch in der Redaktion. Jäger ist der Tageschef am 17. Mai, Korentschnig feilt noch an der Sonntagsausgabe. Johanna Hager, die stellvertretende Innenpolitik-Chefin ist für ihr Ressort in der Abendkonferenz, Michael Andrusio ist der Spätdienst für Online. Sie alle spielen die Hauptrollen an diesem Abend, wenige Stunden später läuft die gesamte Redaktion wieder auf Hochtouren.

Und damit bestätigt sich auch Theorie 2: An diesem Abend funktioniert alles einwandfrei. Innerhalb weniger Minuten wird die Redaktion hochgefahren.

Freitag, 17.50 Uhr

Es ist kurz vor 18 Uhr, wenige Minuten vor Beginn der Abendkonferenz, als Johanna Hager den Tageschef Michael Jäger darüber informiert, dass ein skandalöses Video auf der Homepage von SPIEGEL online veröffentlicht wird. Zu sehen sind die mittlerweile berühmten 6 Minuten aus einer Finca auf Ibiza. Fast zeitgleich informiert mich unser Online-Chef vom Dienst Moritz Gottsauner-Wolf per Whats-App-Nachricht: "Hast Du das irre Video gesehen? Bitte um dringenden Rückruf!" Eine Minute später wusste auch ich, dass es Zeit war, den PC hochzufahren.

In diesen Minuten werden die wichtigsten Entscheidungen getroffen, und sie sind für verantwortungsvolle Journalisten nicht leicht. Ist das Video echt? In Zeiten von Fake News könnten ja auch solche Videos gefälscht sein.Gleichzeitig naht der Redaktionsschluss. Spätestens um 19 Uhr muss die e-Paper-Ausgabe des KURIER fertig sein. Unsere Redaktionsschlüsse sind gestaffelt. Die erste gedruckte Ausgabe für die westlichen und südlichen Bundesländer muss um 19.30 Uhr, jene für das Burgenland  um 21 Uhr, Niederösterreich um 22.30 Uhr und für Wien und Umgebung um 0.30 Uhr abgeschlossen sein. Online gibt es klarerweise keinen Redaktionsschluss. Da geht immer was.

Bürgergespräch in St. Pölten

Michael Jäger leitet als stellvertretender Chefredakteur an diesem Tag die Geschäfte am KURIER- Newsdesk

Es ist also eine Abwägung Geschwindigkeit und/oder Qualität. Im besten Fall geht beides. Immerhin bezichtigt man nicht unüberprüft den Vizekanzler der Republik Österreich, strafrechtlich relevante Tatbestände begangen zu haben. Da hilft auch die Erwähnung der Unschuldsvermutung nichts. Die Telefondrähte in Heiligenstadt beginnen zu glühen.

Michael Jäger informiert wenige Minuten nach 18 Uhr Chefredakteurin Martina Salomon. Die Devise der Chefin ist klar: Wir müssen in der ersten gedruckten Ausgabe (also bis 19 Uhr) jedenfalls eine Seite in der Zeitung haben, bis dahin muss alles getan werden, um zumindest zwei brauchbare Verifizierungen aufzutreiben.

Martina Salomon befindet sich zu diesem Zeitpunkt in Lyon. Sie hat keinen PC bei sich, aber ihr Mobiltelefon. In nur 30 Minuten tippt sie auf dem Handy einen Leitartikel für den Samstag. Am Samstag ist dieser immer extra lang, rund 2.800 Zeichen oder fast eine ganze A4-Seite. Wer jemals unter Zeitdruck versucht hat, einen längeren Text rasch in ein Handy zu tippen, weiß, wie schwierig das ist. Ganz abgesehen davon, dass es zu diesem Zeitpunkt nicht einfach ist, die richtigen Schlüsse zu ziehen. In der heimischen Innenpolitik herrscht nämlich totales Chaos.

2019: Wenn eine Bombe in die KURIER-Redaktion einschlägt

Chefredakteurin Martina Salomon verfasst den ersten Leitartikel im Ausland in nur einer einer halben Stunde am Handy.

Der Leitartikel wird kurz vor 19 Uhr fertig und in unser Redaktionssystem eingespeist. "Politische Bombe" titelt die Chefredakteurin, und sie schätzt die Lage zu diesem Zeitpunkt richtig ein. Strache sei Geschichte, schreibt sie, und wenn die FPÖ nicht sofort auf allen Ebenen mit dem Saubermachen beginne, wäre das das Ende der Koalition samt baldiger Neuwahlen. Exakt 24 Stunden später, am Samstag um 19.30 Uhr verkündet Sebastian Kurz in einer Pressekonferenz genau das.

 

 

Freitag, 18.50 Uhr: Die Entscheidung

Doch soll dieser Text samt erstem großen Bericht über das Ibiza-Video veröffentlicht werden? Unser gesamtes Innenpolitik-Ressort hat recherchiert: Johanna Hager, Christian Böhmer, Michael Bachner, Raffaela Lindorfer, Christoph Schwarz, Andreas Puschautz und Wolfgang Zaunbauer. Immer öfter hören sie von Informanten am Telefon, dass das Video sehr ernst genommen wird, dass Strache und Gudenus an diesem Tag tatsächlich auf Ibiza waren, dass sowohl FPÖ- und ÖVP-Gremien in Permanenz tagten. Und schlussendlich, dass Strache intern die Ereignisse an diesem Abend zugegeben habe. Um 18.36 Uhr veröffentlicht die Austria Presse Agentur die erste Alarmmeldung. Sie steht zwischen einer Niederlage des österreichischen Eishockey-Teams und den Wochenschlusskursen des DAX. Um 18.58 Uhr spricht auch die APA von einer schweren Belastung für Strache. Spiegel und Süddeutsche Zeitung erklären, dass sie wochenlang die Echtheit des Videos geprüft haben - samt forensischer Untersuchung.

 

2019: Wenn eine Bombe in die KURIER-Redaktion einschlägt

18.36 Uhr: Zwischen Eishockey-Meldung und den DAX-Kursen informiert die APA über das Ibiza-Video.

Damit war für uns klar, dass die Geschichte "hält". Um 19 Uhr ist Christian Böhmers erster Artikel über den Ibiza-Skandal für die Länderausgabe fertig. In der Ausgabe für Wien werden es insgesamt bereits vier Seiten sein. Böhmer schreibt: „Ist Österreichs Vizekanzler käuflich?“, fragt der Spiegel, Europas größtes Nachrichtenmagazin. Gemeinsam mit der Süddeutschen Zeitung hat ein Spiegel-Team über Wochen recherchiert,  was an diesem Abend in Ibiza geschah. Es gibt Videos, die die Medien forensisch überprüft haben. Und diese legen den Verdacht nahe, dass der FPÖ-Chef tatsächlich käuflich ist – in vielerlei Hinsicht.

 

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Das erste Cover entsteht innerhalb von wenigen Minuten für die Länder-Ausgabe des KURIER.

Kurz vor 19 Uhr erscheint die erste Online-Story von Michael Andrusio (siehe unten), viele weitere sollen folgen. Wir haben sie in einer Übersicht am Ende dieses Artikels für Sie nochmals zusammengefasst. Sie handeln vom Skandal selbst, den Auswirkungen auf die Koalition, von den ersten hämischen Reaktionen auf Twitter. Sie lesen sich heute genauso spannend wir am 17. Mai.

Wir waren an diesem Tag vielleicht nicht die ersten, die online einen Text veröffentlicht hatten. Wir waren aber sicher, dass das, was wir schreiben, auch stimmt.

So wie Sie das vom KURIER erwarten können.

PS.: Erwähnt sei, dass Gert Korentschnig am Samstag die komplette Sonntagsausgabe des KURIER drehen musste. Statt eines Aufmachers über das 150 Jahr-Jubiläum der Wiener Staatsoper erschien sein Kommentar "Österreich, wir haben ein Problem". Und Korentschnigs Problem an diesem Samstag war der Zeitpunkt, zu dem Sebastian Kurz Neuwahlen ausrief. Dreimal dürfen Sie raten: Es war 30 Minuten nach dem ersten Redaktionsschluss.

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