Wenn Durchschnittsbürger über Mord entscheiden

"Lassen wir den ewigen Patienten Geschworenengerichtsbarkeit doch endlich in Ruhe und in Würde sterben." Dieser Sager stammt von Wolfgang Brandstetter und datiert ins Jahr 2009 zurück. Brandstetter war damals Strafrechtsprofessor. Als Justizminister startete er 2016 selbst den Versuch einer Reform.
Jetzt ist die Frage, ob es noch zeitgemäß ist, wenn ganz gewöhnliche Bürger über Kapitalverbrechen und NS-Wiederbetätigung entscheiden, wieder zum Thema geworden. Sabine Matejka, Präsidentin der Richtervereinigung, hatte im APA-Interview angeregt, die jüngste Reform des Verbotsgesetzes zu nutzen, um die Zuständigkeit zu überdenken.
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Bei erfahrenen Strafverteidigern wie Rudolf Mayer und Manfred Ainedter rennt sie damit offene Türen ein. Die beiden sind nach über 40 Jahren im Geschäft davon überzeugt, dass es eine Reform braucht. "Wenn jemand gerne Lotto spielt, dann hat er es auch gerne, vor ein Geschworenengericht gestellt zu werden", sagt Mayer.
Reform gescheitert
Ainedter und Mayer sind sich bei den wesentlichesten Argumenten einig: Erstens hätten Geschworene nicht das nötige Fachwissen, um komplexe Sachverhalte richtig einzuordnen, sie seien "hoffnungslos überfordert". Zweitens gebe es Bedenken, dass Normalbürger nach ihrem "Bauchgefühl" entscheiden – je nachdem, ob ihnen der Angeklagte sympathisch ist oder nicht. Und drittens: Geschworene entscheiden via Abstimmung, begründen müssen sie ihre Entscheidung nicht. Das mache es schwierig, die Urteile anzufechten.
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Der Große Schwurgerichtssaal im Wiener Landesgericht aufgenommen am Freitag, 24. November 2017.
Mayer war 2009 Teil einer Arbeitsgruppe, aber weder die damalige Justizministerin Claudia Bandion-Ortner noch ihr Nach-Nachfolger Wolfgang Brandstetter kamen mit ihren Reformvorschlägen durch. Die Idee ging damals in Richtung einer "großen Schöffenbank" nach deutschem Vorbild: Drei Berufsrichter entscheiden gemeinsam mit fünf Laien, die Richter liefern dann auch die Urteilsbegründung. Dass sich die Richtervereinigung jetzt für eine Reform ausspricht, sei bezeichnend, so Mayer: "Schließlich würden sie sich damit wesentlich mehr Arbeit aufhalsen."
Im Justizministerium scheint man mit dem aktuellen Modell aber zufrieden zu sein. Auf Anfrage des KURIER heißt es: "Geschworenengerichte ermöglichen es Bürgerinnen und Bürgern, sich an der Justiz zu beteiligen, und stellen damit einen Ausfluss des demokratischen Prinzips dar. So gewährleisten sie eine bürgernahe Rechtsprechung. Dadurch wird auch das Vertrauen in die Justiz gestärkt."
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Geschworenengericht
Geschworene sind Laienrichter, die bei besonders schweren Straftaten (z. B. Mord) und politischen Delikten (z. B. Wiederbetätigung) entscheiden.
Bürgerpflicht
Als Geschworene werden Staatsbürger zwischen 25 und 65 Jahren mit Hauptwohnsitz im Inland zufällig ausgewählt. Es handelt sich um eine allgemeine Bürgerpflicht. Davon befreit werden kann man nur in Ausnahmefällen (z. B. Betreuungspflichten). Bestimmte Menschen, wie gerichtlich Verurteilte oder Angehörige bestimmter Berufe (etwa Rechtsanwälte), können nicht Geschworene werden.
419 Geschworenenprozesse gab es 2022. Heuer gab es bisher 223.
Entscheidung
Das Geschworenengericht besteht aus acht Laien- und drei Berufsrichtern. Die Berufsrichter belehren die Geschworenen und verfassen Ja- oder Nein-Fragen über die Schuld, die die Geschworenen dann beantworten. Über die Schuldfrage entscheiden die Geschworenen alleine mit einfacher Mehrheit. Bei Stimmengleichstand gilt die günstigere Lösung für den Angeklagten. Im Urteil steht dann nur: "Der Schuldspruch begründet sich auf dem Wahrspruch der Geschworenen." Das heißt, dass der Schuldspruch nicht zu begründen und deshalb auch nur schwer zu überprüfen ist. Über die Höhe der Strafe entscheiden die Geschworenen mit den Berufsrichtern gemeinsam.
Aktive Teilnahme
Die Idee der Geschworenengerichtsbarkeit stammt aus der Zeit der Widerstandskämpfe im 19. Jahrhundert. Damals wollte man weg von der kaisertreuen Justiz und war der Ansicht, dass das Volk an der Rechtssprechung mitwirken sollte, erklärt Strafrechtsprofessorin Ingeborg Zerbes, die von einem "Kampf um die Gewaltenteilung" spricht. Dieser Zweck sei heute "verdünnt", weil sich die Justiz ja weiterentwickelt habe und mittlerweile "völlig unabhängig" sei.
Die "aktive Teilnahme am rechtsstaatlichen Geschehen" sei aber auch heute noch wichtig, sagt Alexia Stuefer, eine prononcierte Befürworterin. Laien, die zu Richtern werden, seien Multiplikatoren für eine funktionierende Gerichtsbarkeit, ihr Wert für den Rechtsstaat sei unschätzbar. Und Rechtsmittel seien bei Schöffenverfahren – trotz Begründung – de facto auch nicht effektiver. Wenn schon eine Reform, dann wäre sie unter anderem für mehr Transparenz bei der Belehrung der Geschworenen: "Wenn den Laien das Recht erklärt wird, sollten Staatsanwaltschaft und Verteidigung anwesend sein."
In der Vereinigung der Strafverteidiger gab es übrigens vor einiger Zeit eine Abstimmung darüber, ob die Geschworenengerichtsbarkeit abgeschafft werden soll. Mayer hielt ein Referat dafür, Stuefer eines dagegen. Stuefer gewann.
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