Besonders signifikant sei die Zunahme von „schweren depressiven Symptomen“ (dazu zählen etwa Suizidgedanken). Diese haben sich seit dem letzten Jahr verzehnfacht. Insbesondere betroffen seien Frauen, Alleinstehende und Menschen, die finanzielle Sorgen haben (derzeit sind knapp eine Million Menschen arbeitslos oder in Kurzarbeit).
Während die Generation der über 65-Jährigen laut Pieh vergleichsweise gut mit der Krise umgehen kann, leidet die Jugend immens. „Bei jedem Zweiten in der Altersgruppe zwischen 18 und 24 wird eine depressive Symptomatik festgestellt.“
Wie prekär die Situation ist, zeigt sich auch in der überfüllten Kinderpsychiatrie des AKH in Wien. Ihr Leiter, Paul Plener, spricht im Ö1-Interview von einem „massiven Anstieg akuter Fälle“ und Jugendlichen, die über Antriebslosig- und Müdigkeit klagen, Essstörungen und Suizidgedanken haben. Die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie appelliert auch deshalb, „unter Einhaltung der gebotenen Vorsichtsmaßnahmen die Schulen umgehend im Normalbetrieb zu öffnen“. Doch davon kann angesichts der Zahlen – am Mittwoch wurden 1.641 Neuinfektionen gemeldet – keine Rede sein.
„Wir sind in einer Langzeitbelastung“, weiß auch Michael Musalek, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie. Als Beleg nennt er den Alkoholkonsum, der bereits nach dem ersten Lockdown im März 2020 um ein Sechstel gestiegen ist. Eine andere Nebenwirkung sei zu viel Essen und zu wenig Bewegung. „Durch die Gewichtszunahme sinken das Wohlbefinden und die Resistenz. Wer sich körperlich nicht ausreichend betätigt, muss mit Spannungs- und Unruhezuständen rechnen, die wiederum die Aggressionsbereitschaft erhöhen. Zudem führt das ständige Zusammensein in einem Haushalt automatisch zu Reibung im Miteinander“, beschreibt Musalek im KURIER-Gespräch das Dilemma, in dem wir uns befinden.
„Derzeit erscheint die einzige Lösung die Öffnung des Lockdowns. Das stimmt aber nicht. Man kann und muss innerhalb des Lockdowns sehr viel ermöglichen“, sagt Musalek. Zumal niemand wisse, wie lange es dauert, bis wir die Pandemie in den Griff bekommen haben. Der Psychotherapeut befürwortet deshalb – unter Einhaltung von Abstandsregeln, FFP2-Maskenpflicht und Tests – die Möglichkeit des Skifahrens und plädiert für die Öffnung von Museen, Theatern oder Opernhäusern. Grund: „Je mehr wir belastet sind, desto mehr Schönes brauchen wir. Körperliche Bewegung und Kultur bieten Menschen Schönes. Wenn man Menschen diese kleinste Kraftquelle nimmt, geht die Kraft automatisch aus.“
Angesichts der jetzt vorliegenden Studien wird sich ein eigener Beraterstab der psychosozialen Folgen der Krise annehmen, heißt es seitens des Gesundheitsministeriums. Wer dem Beraterstab angehören wird, ist auf KURIER-Nachfrage noch offen. Die Sozialversicherung arbeite jedenfalls „an einer Aufstockung der verfügbaren Therapieplätze, um eine breitere Versorgung zu gewährleisten“. Immer wieder politisch diskutiert, aber noch nicht implementiert, ist in Österreich die Psychotherapie auf Krankenschein.
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