KURIER: Wir befinden uns im dritten Lockdown, dem 11. Monat der Pandemie. Wie sehr belastet das die Psyche?
Michael Musalek: Wir müssen zwei Kollektive unterscheiden. Das eine Kollektiv sind psychisch Kranke, das andere ist die sogenannte Normalbevölkerung, die massiv belastet ist. Menschen halten Akutbelastungen sehr gut aus, aber Langzeitbelastungen sehr schlecht.
Sind wir es jetzt mit einer Langzeitbelastung?
Wir sind in einer Langzeitbelastung. Sie können das mit einem Fußballspiel vergleichen. Die zweite Halbzeit ist auch im Sport die schwierigste: Da schwinden Energie und Motivation und es entscheidet sich, ob man die Partie gewinnt oder verliert. In dieser Situation befinden wir uns.
Bei Corona wissen wir aber nicht, wann der Schlusspfiff kommt. Wie wichtig ist für die Psyche ein genaues Datum oder geht es mehr um die Perspektive?
Es geht um die Perspektive, denn wir wissen nicht, wie lange es dauert, bis wir die Pandemie in den Griff bekommen. Natürlich sind die Lockdown-Maßnahmen extrem belastend, doch wir können sie teilweise entschärfen. Es ist wie bei einem Medikament: Wenn ein Medikament hochwirksam ist, dann hat es auch Nebenwirkungen. Wir können die Nebenwirkungen aber minimieren.
Wie können wir die Lockdown-Nebenwirkungen minimieren?
Wir müssen mehr Schönes zulassen. Das, was das Leben ausmacht. Umso mehr wir belastet sind, desto mehr Schönes brauchen wir. Körperliche Bewegung und Kultur bieten Menschen Schönes. Wenn man Menschen diese kleinste Kraftquelle nimmt, geht die Kraft automatisch aus. Eine Studie aus dem Mai 2020 zeigte bereits, dass ein Viertel der Befragten psychisch massiv belastet ist.
Sie befürworten also Skifahren und plädieren für die Öffnung von Museen, Theater und Oper?
Ja, überall dort, wo kontrolliertes Zusammensein mit Masken und Abstand möglich ist, es kaum zu Infektionen kommt, sollte man diese Möglichkeit schaffen.
Nochmals zu den Nebenwirkungen: Wie kann jede/r festmachen, dass er/sie psychisch belastet ist?
Der Alkoholkonsum ist bereits im Mai um ein Sechstel gestiegen. Das führt zu Schädigungen und bringt mit sich, dass das Immunsystem herunterfährt, was wiederum zu einer erhöhten Ansteckungsgefahr führt. Eine andere Nebenwirkung ist vermehrtes Essen. Durch Gewichtszunahme sinkt das Wohlbefinden und die Resistenz. Wer sich körperlich nicht ausreichend betätigt, muss automatisch mit Spannungs- und Unruhezuständen rechnen, die wiederum die Aggressionsbereitschaft erhöhen. Zudem führt das ständige Zusammensein in einem Haushalt automatisch zu Reibung im Miteinander. Viele haben das Gefühl: Das einzige, was bleibt, ist das Essen und Trinken.
Wir müssen seit Monaten auf Abstand zum Nächsten sein. Ist Videotelefonie ein adäquates Mittel, den Abstand zu verringern?
Jede soziale Nähe hat Gutes. Virtuelle Kommunikation kann echte aber nicht ersetzen. Doch ein Gespräch mit zwei bis drei Meter Abstand ist eine der Möglichkeiten, die wir jetzt haben und nutzen können.
Was kann, was muss die Politik tun, um diese Entwicklungen entgegenzuwirken?
Es geht nicht nur um die Politik, sondern um uns als Gesellschaft. Wir müssen in ein öffentliches Gespräch kommen, wie wir alle in und mit einem Lockdown umgehen können. Derzeit erscheint die einzige Lösung des Lockdowns die Öffnung. Das stimmt aber nicht. Man kann und muss innerhalb des Lockdowns sehr viel ermöglichen.
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