Suchtexperte Musalek: "Lockdown erhöht Alkoholkonsum um 15 Prozent"
Der Wiener Psychiater und Psychotherapeut Michael Musalek gilt als einer der international renommiertesten Suchtexperten. So hat er die Orpheus-Methode entwickelt. Dabei soll eine Sucht durch etwas Schöneres und Cooleres ersetzt werden. So wie eben der griechische Sagenheld Orpheus schöner gesungen hat als die „Sirenen“ (während ihnen Odysseus nur mit List entkommen konnte). Musalek ist Vorstand des Instituts für Sozialästhetik und psychische Gesundheit an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien und Berlin. Im KURIER spricht er über die Auswirkungen der aktuellen Corona-Maßnahmen und wie man Ängste und eine Sucht bewältigen kann.
KURIER Talk mit Michael Musalek
KURIER: Welche psychischen Folgen haben die aktuellen Maßnahmen der Regierung für die Menschen?
Michael Musalek: Zunächst wird die Angst zunehmen. Das hat den Effekt, dass die Menschen die Situation wieder ernster nehmen werden. Kurzfristig. Langfristig betrachtet aber wird die Anspannung steigen. Dementsprechend wird versucht werden, diese Anspannung loszuwerden.
In welcher Form?
Über aggressive Entladungen. Sprich: Reizbarkeit und Aggression nehmen zu. Das hat sich im Frühjahr schon gezeigt.
"Das Allheilmittel für den Österreicher ist leider der Alkohol."
Spielt eine Rolle, dass es jetzt November ist?
Ja. Besonders im urbanen Raum wird das jetzt für die Menschen schwierig, da man nicht unmittelbar die Natur vor der Haustür hat. Dazu kommt, dass die Menschen in Städten oft in kleinen Wohnungen leben. Oft mit Kindern im Schulalter. Und dazu kommt noch das Homeoffice. Das alles führt neben der Angst zusätzlich zu Überforderung.
Wie beurteilen Sie eigentlich die Maßnahmen der Regierung?
Es geht am Ende um Menschenleben. Daher kritisiere ich diese Maßnahmen nicht. Wichtig wäre es aber jetzt, dass die Verantwortlichen bei den Menschen auch eine positive Motivation erzeugen.
Wie das?
Indem man erklärt, dass wir diese Maßnahmen für uns selbst machen. Für unser aller Gesundheit, aber auch für unsere Wirtschaft, die sich so rasch wie möglich wieder erholen soll. Wichtig ist aber auch, dass man Menschen dazu motiviert, der ganzen Situation auch etwas Positives abzugewinnen.
Was könnte das sein?
Man könnte die Zeit nützen, um Menschen digital zu kontaktieren, die man schon lange nicht gesehen hat. Oder man kann ein Fitnessprogramm erstellen. Oder wieder Bücher lesen. Oder schöne Musik hören.
Was bringt das?
Sehr viel: Je wohler wir uns fühlen, desto stärker unser Immunsystem. Je stärker unser Immunsystem, desto stärker die Abwehr gegenüber einer potenziellen Ansteckung. Ich sage nicht nur: testen, testen, testen. Ich sage auch: Schönes, Schönes, Schönes.
Sie haben von Anspannung gesprochen: Viele Menschen greifen da zum Alkohol, oder?
Da besteht zweifelsohne ein großes Risiko, da Alkohol ein großer und leicht verfügbarer Spannungslöser ist. Eigene Studien haben ergeben, dass vermehrt Alkohol getrunken wird.
"Reizbarkeit und Aggression nehmen zu. Das hat sich im Frühjahr schon gezeigt."
Lässt sich der gestiegene Alkoholkonsum im Lockdown beziffern?
Ganz einfach lässt sich das nicht sagen, da die allerwenigsten Österreicher täglich die gleiche Menge zu sich nehmen. Was wir wissen ist, dass der Alkoholkonsum um 15 Prozent gestiegen ist und Menschen, die früher nicht regelmäßig getrunken haben, jetzt dazu tendieren.
Ist Homeoffice ein Verführer?
Homeoffice ist mehr als ein Verführer: es ist eine treibende Kraft. Für die Meisten bedeutet Homeoffice nämlich nicht, bequem auf 100m2 zu arbeiten. Viele müssen mit Kindern und Partner auf engstem Raum arbeiten, womit es zu aggressiven Tendenzen kommt, wodurch wiederum Alkohol Tür und Tor geöffnet ist. Das Allheilmittel für den Österreicher ist leider der Alkohol.
"Wer zwei Bier braucht, um in die Redaktion zu gehen, eine Sitzung durchzustehen oder überhaupt in die Arbeit zu gehen, ist in einer hochproblematischen Situation."
Und was ist mit der Spielsucht?
Bei der Spielsucht müssen wir zwischen dem Spielen online oder im Casino unterscheiden. Zudem müssen wir online zwischen Glücksspielsucht und Online-Gaming wie Shooter-Spiele differenzieren. Im Prinzip kann jeder suchtkrank werden: Mann, Frau, älter oder jünger, wenn man es nur lange genug tut und, wenn man zusätzlich in eine Drucksituation kommt und es als Therapeutikum benutzt.
Befinden wir uns jetzt in einer Drucksituation?
Wir sind in einer massiven Drucksituation. Akutbelastungen hält der Mensch relativ gut aus, psychisch passiert – trotz allem – relativ wenig. Wir sind leider nicht gut gerüstet für länger dauernde Belastungen und die Corona-Krise ist genauso eine Belastung, die zermürbt.
Ab wie viel Gläsern Wein oder Bier über welchen Zeitraum getrunken bin ich suchtgefährdet?
Wir müssen unterscheiden. Beim moderaten Konsum nehme ich zeitweise kleine Mengen zu mir und habe längere Pausen dazwischen. Der erhöhte Konsum geht mit einer Regelmäßigkeit einher, der problematische Konsum beginnt beim täglichen Trinken, wenn der Alkohol kein Genussmittel mehr ist, sondern ein Therapeutikum. Meist wird dann wegen Schlafstörungen, Spannungs- oder Angstzuständen getrunken. Durch regelmäßiges Trinken entsteht eine Toleranzentwicklung.
Was heißt Toleranzentwicklung?
Man braucht immer mehr Alkohol, um den gleichen Effekt zu erzielen. Dadurch kommt es zu einer Dosissteigerung und Frequenzerhöhung. Irgendwann lässt es sich nicht mehr kontrollieren: Die Tür zur Sucht offen. Der Kontrollverlust ist das zentrale Zeichen der Sucht.
Wer täglich zwei Bier trinkt, der gilt also als kontrollierter Trinker, der nicht krank ist?
Man ist noch nicht suchtkrank, aber durchaus suchtgefährdet. Wer zwei Bier braucht, um in die Redaktion zu gehen, eine Sitzung durchzustehen oder überhaupt in die Arbeit zu gehen, ist in einer hochproblematischen Situation.
"Ein Menschsein ohne Suchtmittel ist nicht vorstellbar."
Inwiefern spielt die Uhrzeit beim Trinken eine Rolle?
Es gibt kaum Menschen, die in der Früh ein Stamperl trinken und dann nichts mehr. Die Uhrzeit ist nicht das entscheidend, sondern der Grund, warum man wann zu trinken beginnt.
Warum hat Österreich in OECD-Studien bei Alkohol- und Nikotinsucht immer einen Spitzenplatz?
Das mag daran liegen, dass Österreicher dazu neigen, Alkohol erst zu bagatellisieren und dann zu dramatisieren, wenn jemand alkoholkrank ist. Die Sprücherl: „Ein Räuscherl in Ehren kann niemand verwehren“ hören wir ja häufig. Der wesentlichste Grund sind aber wohl die Trinkgewohnheiten.
Wodurch unterscheiden sich des Österreichers Trinkgewohnheiten von anderen?
Wir kennen das nördliche Konsumverhalten in Skandinavien, das sich durch seltenes Trinken auszeichnet. Wenn dort getrunken wird, dann gleicht es einem Rauschtrinken. Der südliche Trinkstil in Italien oder Spanien zeichnet sich dadurch aus, dass relativ regelmäßig geringe Mengen an Alkohol getrunken werden. Die Österreicher liegen genau dazwischen: wir trinken viel und regelmäßig.
Österreichs Jugendliche greifen im internationalen Vergleich viel und oft zu Nikotin und Alkohol. Gibt es auch dafür eine Erklärung?
Wir sind leider bei allen Parametern im Spitzenfeld: Pro-Kopf-Verbrauch, die Zahl der Alkoholkranken oder –gefährdeten. Dass speziell Junge so viel trinken, das liegt an der Vorbildwirkung der Erwachsenen. Kinder und Jugendliche machen selten das, was Erwachsene ihnen sagen – aber fast alles, was sie ihnen vorleben.
Das Bierdosentrinken auf der Straße kann Menschen zu Nachahmungstrinkern machen?
Wir sprechen von einem Alkohol permissiven Milieu. Das heißt: Alkohol ist üblich, auch in höheren Mengen und Regelmäßigkeit, wo gar nicht mehr auffällt, dass und wie viel getrunken wird.
Wir leben in einem Milieu, in dem man erklären muss, warum man nicht trinkt.
Das ist ein Riesenproblem vor allem für Alkoholkranke, die sich erklären müssen. Wir haben in Österreich leider immer noch kein Problembewusstsein: mit einer Ausnahme. Es ist heute – im Gegensatz zu vor 20 oder 30 Jahren – nicht mehr fesch, alkoholisiert Auto zu fahren. Unsere Aufgabe ist es nicht, Alkohol zu verteufeln, sondern auf die Gefahrenmomente, die damit verbunden sind, aufmerksam zu machen.
"Wenn wir heute ein Präventionsprogramm entwickeln wollen, dann müssen wir in der 4. Klasse Volksschule beginnen."
Gibt es denn einen kultivierten Umgang mit Alkohol?
Ja, denn es gab auch einen kultivierten Umgang mit Kokain. Es gab kaum kokainabhängige Indianer, weil sie Kokain nur in bestimmten religiösen Ritualen verwendet haben. Als der weiße Mann in die USA mit dem Alkohol kam, gab es kein Ritual dafür. Bis heute sind Indianer in den USA die Gruppe, die deshalb am schwersten von der Alkoholsucht betroffen ist.
Alkohol-, Spiel- oder Einkaufssucht sind auch eine Quelle für die Wirtschaft. Würde die Wirtschaft ohne Süchtige zusammenbrechen?
Ein Menschsein ohne Suchtmittel ist nicht vorstellbar. Es gibt Suchtmittel mit einem niedrigen Suchtpotenzial. Das heißt: Man muss lange und hochdosiert konsumieren, um süchtig zu werden.
Welche Mittel weisen niedriges und welche hohes Suchtpotenzial auf?
Alkohol und Cannabis weisen niedriges Suchtpotenzial auf. Hohes Suchtpotenzial ist bei Mitteln gegeben, die bei geringen Mengen abhängig machen. Heroin, Nikotin-Inhalationsrauchen, Kokain, Amphetamine oder Tranquilizer. Eine Alkoholkrankheit ist aber nicht weniger stark, weil das Suchtpotenzial geringer ist. Wenn man suchtkrank ist, dann ist man immer gleich stark suchtkrank. Wie rasch man suchtkrank wird, das hängt vom Mittel ab und der Applikationsform.
Was heißt das?
Je rascher ein Suchtmittel die psychotrope Wirkung entfaltet und diese wieder abfällt, desto größer ist die Gefahr der Sucht.
Helfen Rauchverbote und Verkaufsbeschränkungen bei Alkohol?
Die Prohibition in den USA hat in Bezug auf die Alkoholkrankheit sehr viel gebracht. Das Problem dabei war die gleichzeitige Zunahme der Kriminalität. Ich erinnere an College-Studenten, die plötzlich durch illegalen Alkoholverkauf und -konsum kriminell wurden. Bei Verboten muss also stets überlegt werden: Welche Folgen hat das Verbot und ist der dadurch entstandene Schaden nicht größer als der Schaden der Sucht selbst. Einschränkende Maßnahmen sind jedenfalls in der Suchtprävention wirksam.
Die Pharmabranche entwickelt immer wieder Medikamente, um Alkoholsucht zu behandeln. Sind diese wirksam?
Es gibt Medikamente, mit denen man Menschen helfen kann das Trinken zu minimieren oder die Entzugserscheinungen zu reduzieren. Sucht ist ein hochkomplexes Geschehen, das aber nicht mit einer Tablette behandelt werden kann. Es braucht immer auch Aufklärung, Psychotherapie und soziale Unterstützung.
Warnhinweise wie auf Zigarettenschachteln auf einem Weinetikette wären sinnvoll?
Diese Hinweise auf Packungen haben keinen großen Effekt erzielt. Effektiv sind Bewusstseinsschaffung und Regularien. Qualitativ hochwertiger Wein in geringen Mengen beispielsweise zu einem adäquaten Preis wäre ein richtiger Weg.
Teurer Alkohol wäre die Lösung?
Natürlich wäre der Preis ein Kriterium. Wenn ich aber nur den Preis hinaufsetze, dann treffe ich nur eine gewisse Bevölkerungsgruppe. Es hat auch kaum jemand aufgehört zu rauchen, weil Zigaretten teurer geworden sind, auch wenn viele das vorgeben. Auch Angst ist nur kurzfristig, weil ein schlechter Motivator. Langfristig bringen nur positive Motivatoren etwas.
Aristoteles sagt, es braucht nur den Willen, um etwas zu erreichen. Michael Musalek sagt, es geht um die Motivation.
Ich schätze Aristoteles über Alles, doch muss ich mich hier gegen ihn stellen, weil er mit der Willensschwäche ein Konzept in die Welt gesetzt hat, das uns bis heute verfolgt. Ich habe noch nie einen per se willensschwachen oder willensstarken Menschen gesehen. Nur in Situationen wird das Willensschwache oder –starke offenbar. Zwei Motivatoren stechen jedoch immer hervor: Wenn etwas schön ist und, wenn ich es für möglich halte. Wenn beide Motivatoren fehlen, hat jeder einen schwachen Willen. Sind beide da, dann hat jeder Mensch einen starken Willen.
Genau darauf basiert Ihre Orpheus-Methode.
Ja, sie stellt einen Paradigmen-Wechsel in der Suchtbehandlung dar. Denn früher galt es, Menschen in der Abstinenz und dem Verzicht zu halten. Wenn ich das Leben aber mit so viel Freuden anreichere, dass das Suchtmittel nicht mehr an erster Stelle meines Lebens steht, sondern an 20., dann kann ich leichter darauf verzichten, dann verliert es an Attraktivität.
Hat sich das Suchtverhalten in den vergangenen Jahrzehnten verändert?
Es hat sich sehr viel verändert. Online- und Einkaufssucht hat vor Jahren noch keine Rolle gespielt. Bei Alkoholsucht sind bei Frauen massive Zuwachsraten zu verzeichnen. Und: Das Einstiegsalter wird immer niedriger. Hat man früher mit 16 oder 17 Jahren begonnen zu trinken, ist es heute mit 12. Wenn wir heute ein Präventionsprogramm entwickeln wollen, dann müssen wir in der 4. Klasse Volksschule beginnen.
Viele klagen in Corona-Zeiten über Schlafstörungen. Schlafmittel gelten als gefährlich, gleichzeitig sind Schlafmitteldrinks mittlerweile in Supermärkten erhältlich.
Schlafmittel- und Beruhigungsmittelabhängigkeit entwickelt sich nicht innerhalb von Tagen. Wenn man diese Mittel aber über Wochen nimmt, dann beginnt es gefährlich zu werden. Besonders dramatisch wird es, wenn man beginnt, die Dosis zu steigern und die Abhängigkeit einsetzt.
Letzte Frage: Haben Sie selbst eine Sucht?
Nein. Da ich aber manchmal Alkohol konsumiere, bin ich wie jeder Mensch prinzipiell natürlich gefährdet.
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