Warum es im EU-Parlament zum Showdown im Streit um die Natur kommt
An die hundert Traktoren und demonstrierende Bauern auf der einen Seite – Greta Thunberg und eine Heerschar junger Klimaaktivisten auf der anderen. Wer sich am Dienstag an den Protestgruppen vorbei mühsam ins EU-Parlament vorkämpfte, dem wurde klar:
Hier steht ein Gesetz zur Abstimmung, an dem sich nicht nur die Geister für und wider strengeren Naturschutz scheiden.
Die Wiederherstellung eines möglichst natürlichen Zustands von Ökosystemen wird als Renaturierung bezeichnet. Das bedeutet aber nicht, eine Fläche einfach sich selbst zu überlassen. So müssen etwa Böden entgiftet, Moore wieder gewässert, Flusssperren wieder rückgebaut werden. Bis 2030 sollen mindestens 25 000 Flusskilometer in in frei fließende Flüsse umgewandelt werden.
In den Städten
sollen bis 2050 10 Prozent der Fläche mit schattenspendenden Baumkronen überspannt sein.
20 Prozent
der Fläche der EU sollen laut einem Gesetzesvorschlag der EU-Kommission bis 2030 wieder renaturiert sein. Das Plenum des EU-Parlaments stimmt heute darüber ab.
Politisches Kräftemessen
Hier geht es auch um massives politisches Kräftemessen. Um Angsterzählungen auf allen Seiten – und dem bereits tobendem Wahlkampf. In weniger als einem Jahr stehen Wahlen zum EU-Parlament ins Haus. Und die politischen Parteienfamilien rüsten sich. Heute, Mittwoch, wird eine Wegmarke gesetzt: Die EU-Abgeordneten im Plenum des Parlaments in Straßburg stimmen über das „Gesetz zu Wiederherstellung der Natur“ ab. Dieses sieht vor, bis 2030 ein Fünftel der Fläche der EU wieder in möglichst naturnahen Zustand zurückzubringen.
Das bedeutet etwa Flussbegradigungen zurückzunehmen, trockengelegte Moore wieder zu befeuchten, teilweise Wälder nicht mehr zu bewirtschaften, mehr Grün in die Städte zu bringen.
Dagegen läuft die größte Fraktion im EU-Parlament, die Europäische Volkspartei, (EVP), Sturm. „20 Prozent der Fläche werden so außer Nutzung gestellt. Das würde unsere Versorgungssicherheit gefährden“, ist ÖVP-EU-Abgeordneter Alexander Bernhuber überzeugt.
Landwirte, die Nutzflächen wieder in den Naturzustand bringen müssten, würden de facto enteignet. Denn: „Es ist nicht klar geregelt, wie die Grundbesitzer entschädigt würden.“ Zudem sei das Gesetz, so der Vorwurf der gesamten EVP, zu bürokratisch und eigentlich sowieso obsolet.
„Zurück an den Start“
In fast zwei Dutzend anderen Umwelt- und Klimagesetzen der EU „ist eh schon Vieles geregelt“, sagt Bernhuber. Fazit: Das Renaturierungsgesetz müsse von der EU-Kommission neu ausgehandelt werden. Zurück an den Start – oder gar nicht.
Mit identischen Argumenten schließen sich die drei Abgeordneten der EU-FPÖ ebenso wie alle anderen Rechtspopulisten und Konservative (EKR) im EU-Parlament an.
„High Noon“ wird dann tatsächlich heute Mittag bei der Abstimmung sein: Wird der rechte Block die Mehrheit erzielen? Und damit erstmals ein zentrales Gesetz der EU-Umweltpolitik in den Sand setzen?
Verlorene Jahre
„Es wird knapp“, befürchtet Andreas Schieder. Der Delegationsleiter der SP-EU-Abgeordneten kämpft ebenso wie die gesamten Sozialdemokraten, Grünen und Linken im EU-Parlament vehement für das Renaturierungsgesetz. „Wenn wir es jetzt nicht durchbringen, dauert es wieder Jahre. Und diese Jahre werden uns fehlen, wenn wir gegen den Klimawandel vorgehen wollen“, sagt Schieder.
Unisono ist von den Kritikern der EVP zu hören: Den Christdemokraten gehe es gar nicht um die Inhalte des Gesetzes – sondern um den bereits angelaufenen Wahlkampf.
All jene, denen der Kampf gegen den Klimawandel in der EU zu schnell, ihre Gesetze zu radikal und schmerzhaft anmuten, versucht die EVP anzusprechen: Frontmann in diesem Kampf ist EVP-Chef Manfred Weber. Frontfrau EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola. Auch sie warnt davor, „die europäischen Wähler mit den vielen ehrgeizigen Umweltgesetzen zu überfordern."
Einige Warnungen der EVP vor den potenziell schädlichen Folgen des Renaturierungsgesetzes bezeichnet der Grüne EU-Abgeordnete aus der Steiermark, Thomas Waitz, schlicht als "Falschmeldungen": „Niemand wird von heute auf morgen gezwungen, seinen Boden aufzugeben. Es geht darum, wie wir wieder eine vielfältigere Landschaft bilden.“
Und das unter höchstem Zeitdruck: „Wir erleben derzeit das schnellste Artensterben seit dem Saurierzeitalter. Wir verlieren jede Stunde eine Art.“ Das Argument der Grünen: Nur mit einer gesunden Natur seien die Grundlagen für Land- und Forstwirtschaft gesichert.
Experten sehen auch die Sorge der EVP vor einem Lebensmittelengpass als unbegründet: „Im Vorjahr betrug der Handelsüberschuss bei Lebensmittelexporten aus der EU 50 Milliarden Euro“, sagt ein hoher EU-Diplomat.
Eine entscheidende Rolle werden die Liberalen im EU-Parlament werden. Verhelfen sie der EVP zu einer Mehrheit, wird das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur endgültig Schiffbruch erleiden. Alle anderen Umweltgesetze, die vor der EU-Wahl noch in der Pipeline sind, würde das ebenfalls radikal abbremsen.
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