Biodiversitätsforscher Essl: "Bodenverbrauch zeigt Scheinheiligkeit der Argumente“
Franz Essl, Wissenschaftler des Jahres 2022, ist Biodiversitätsforscher an der Uni Wien. Er warnt vor einem Scheitern des EU-Renaturierungsgesetzes.
Von Bernhard Gaul
KURIER: Könnte man den Brüsseler Disput so verstehen? Die Volksparteien sagen, wenn wir das EU-Renaturierungsgesetz umsetzen, gefährden wir unsere Ernährungssicherheit, und die Kommission sagt, wenn wir das nicht tun, gefährden wir jedenfalls unsere Böden und damit unsere Ernährungssicherheit?
Professor Franz Essl: Das ist etwas überspitzt, aber von der Tendenz her richtig. Für mich ist das eine vertretbare Aussage.
2020 hat die EU-Umweltbehörde belegt, dass 81 Prozent der Böden in der EU in schlechtem Zustand sind. Was heißt das, man sieht ja derzeit saftig grüne Wiesen und Äcker?
Ja, vier Fünftel der Lebensräume sind gefährdet, das sind offizielle Zahlen. Alle EU-Staaten geben alle sechs Jahre eine Neubewertung über den Zustand der Lebensräume ab, Grünland, Moore, Feuchtgebiete generell, gehen weiterhin zurück, sowohl in der Qualität als auch in der Quantität. Diese Fakten sind eine Grundlage des Entwurfs für die EU-Renaturierungsgesetze, da sich der Zustand der Biodiversität in Europa weiter verschlechtert. Dass unsere Wiesen und Äcker grün sind, stimmt, aber das bedeutet nur, dass diese intensiv gedüngt sind, häufig gemäht werden, weil grün heißt auch, dass es keine Blumen gibt, und damit keine Nahrungsgrundlage für Bestäuber und Insekten generell, und damit auch für die insektenfressenden Vögel, die auch massiv zurückgehen. Grüne Wiesen sind in dem Fall nicht die Farbe der Vielfalt.
Es geht also um die Biodiversitätskrise. Was ist das, wie zeigt sie sich?
Unzählige wissenschaftliche Publikationen belegen eindeutig, dass gerade in Europa und als Folge dessen, was wir Menschen mit der Landschaft machen, dass wir eine massive Erosion der Artenvielfalt zu verantworten haben, also das Artensterben. Dabei ist nur eine einigermaßen intakte Kulturlandschaft und die Artenvielfalt, die damit untrennbar verbunden ist, Grundlage für stabile und langfristige Ernteerträge, weil ohne einen halbwegs intakten Boden, ohne eine halbwegs große Vielfalt an Nützlingen und generell Artenvielfalt, ohne ein einigermaßen intaktes Netz an intakten Lebensräumen wie Auen, Wälder und Feuchtgebiete, die das Wasser halten können und die vor Hochwässer und Muren schützen, fügen wir als Gesellschaft uns massiven Schaden zu, auch ökonomisch. Denn durch Extremwetterereignisse und Hochwässer, die zunehmen werden, Ernteausfälle, die häufiger auftreten werden, den austrocknenden Böden und dem sinkenden Grundwasserspiegel - das sind alles Phänomene, die man auch in Österreich schon sehen kann, haben wir einen ökonomischen Imperativ, uns als Gesellschaft anders zu positionieren. Die EU hat mit dem Green Deal tatsächlich Vorschläge gemacht, die in die richtige Richtung gehen.
Wenn die Bodenqualität sinkt, die Biodiversität im Boden abnimmt, was heißt das? Ist doch nur Erde…
Wenn Sie eine Handvoll guten Boden in die Hand nehmen, leben dort mehr Organismen als Menschen auf der Erde. Mikroorganismen, die man mit freiem Auge nicht sehen kann, Milliarden von Einzellern, Bakterien, Pilzen, Insektenlarven und noch mehr. Ein intakter Boden ist also ein lebender Organismus. Wenn Böden nicht mehr intakt sind, lebt dort nichts mehr, er kann viel weniger Wasser aufnehmen und speichern, weil er weniger Bodenporen hat und Ähnliches, das führt zu einem rascheren Abfluss und mehr Hochwasser und mehr Bodenerosion, und dadurch zu einem schlechteren Pflanzenwachstum.
Kann man den Artenverslust etwa bei den Insekten mit Zahlen unterlegen, sind das 10 oder 20 Prozent Verlust?
Da gab es die Krefeld-Studie von 2013 und einige neuere Studien, die etwa von einem gesicherten Verlust von 70 Prozent ausgehen, das variiert ein wenig regional. Es gibt also ganz klar einen massiven Rückgang der Arten.
Warum soll mich das als Bürger stören, wenn es weniger Insekten und Mikroorganismen gibt?
Wir sollten uns alle bewusst sein, dass es nicht nur darum geht, ob ich weniger Schmetterlinge über eine Wiese fliegen sehe, sondern dass das auch alles Warnsignale sind für eine gravierende Zerstörung unserer Lebensgrundlage mit gravierenden Folgen für uns als Gesellschaft. Wenn wir an Klimawandel denken als zusätzliche Veränderung, die auf uns zukommt, mit erheblichen Auswirkungen auf unsere Nahrungsmittelproduktion etwa durch Extremwetterereignisse, die häufiger werden, dann zeigt das vor allem an, dass wir über unseren planetaren Grenzen leben, die uns die Natur gibt, und das lässt sich auf Dauer mit einer intakten Gesellschaft nicht vereinbaren. Und darüber müssen wir uns Sorgen machen, das sind sehr sichtbare und messbare Veränderungen, die eindeutig stattfinden.
Hängt die Biodiversitätskrise mit der Klimakrise zusammen?
Beide Phänomene haben dieselben Ursachen und sind nur gemeinsam lösbar. Die Biodiversitätskrise ist Folge eines übergroßen gesellschaftlichen ökologischen Fußabdrucks, den wir Menschen haben, weil wir die Landschaften zu intensiv nutzen, zu wenig Rückzugsgebiete zulassen, wir einen viel zu hohen Flächenverbrauch in Österreich haben. Auf der anderen Seite, auf der Versorgungsseite, haben wir ein Abfallproblem etwa durch die CO2-Emissionen, wo die Atmosphäre unsere Mülldeponie für unsere Treibhausgase ist. Beide hängen zusammen. Und wir dürfen nicht vergessen, dass ein Viertel der Treibhausgase nicht aus der Nutzung fossiler Energieträger stammen, sondern aus der Zerstörung von Lebensräumen, wenn Wälder intensiv genutzt oder gerodet werden, oder Feuchtgebiete entwässert werden und so der Torf abgebaut wird, oder durch die intensive Landwirtschaft, dann sind das alles massive Treibhausgasquellen. Um also auch den Klimawandel erfolgreich bekämpfen zu können, muss das gemeinsam mit der Biodiversitätskrise gelöst werden.
Wir haben jetzt die seltene Situation, dass die EU-Kommission etwas vorschlägt, das die Wissenschaft massiv unterstützt, und die größte Gruppe im Parlament, die EU-Volkspartei, ablehnt. Sie sind einer von 6000 Wissenschaftlern, die sich in einem offenen Brief für dieses Gesetz einsetzen. Ist das vorgelegte Gesetz der EU-Kommission wirklich begrüßenswert aus wissenschaftlicher Sicht?
Wir haben eine wissenschaftlich unstrittige Diagnose, was das Problem ist. Unstrittig ist es auch notwendig, eine Trendwende zu haben, auch der Wiederherstellung intakter Ökosysteme, ein Eckpfeiler des Green Deals, der Wiederherstellung eine höhere Priorität zu geben. Also zum Beispiel sind 90 Prozent der Moore und Feuchtgebiete in Österreich zerstört oder stark verändert. Manche davon kann man durch Wiedervernässung oder durch eine bessere landwirtschaftliche Nutzung wieder herstellen, dann halten die auch wieder das Wasser in der Landschaft. Das machen wir schon, das bringt der Biodiversität einen großen Nutzen, das hilft gegen den abfallenden Grundwasserspiegel, und es ist ein guter Beitrag zum Klimaschutz. Maßnahmen, die machbar sind. Auch bei Auen gibt es Projekte, um den Hochwasserschutz zu verbessern, zu renaturieren. Es gibt also viele erprobte und umsetzbare Maßnahmen, die notwendig sind auf EU-Ebene zu koordinieren und auszuweiten, mit einer gemeinsamen Strategie, und genau das würde das EU-Renaturierungsgesetz in der vorliegenden Form bringen.
In Österreich lehnt der Bauernbund das Gesetz aber klar ab. Können Sie das erklären?
Ich glaube nicht, dass die Interessensvertreter und die Landwirte immer dieselbe Meinung vertreten. Ich glaube, dass der politische Widerstand der Europäischen Volkspartei, der auch von der ÖVP stark mitgetragen wird, letztlich ein Konflikt über die Ressourcenverteilung ist, auch der finanziellen Ressourcen. Ich glaube, das ist alles nicht mehr zeitgemäß. Landwirtschaftspolitik muss anders geplant werden. Die Interessenvertretung hinkt aus meiner Sicht hinter den Interessen der Landwirte hinterher. Ich denke, dass viele Landwirte längst eine andere Landwirtschaftspolitik unterstützen würden.
Sie kennen die Argumente der EU-Volkspartei gegen den Green Deal, basieren die auf wissenschaftlichen Fakten?
Nein. Es geht um eine politische Situation, wo versucht wird, das Gesetz politisch zu Fall zu bringen, daher sind das nur politische Argumente. Es gibt aber nicht nur die 6000 Wissenschaftler, die für das Gesetz und gegen die Haltung der EVP eintreten, sondern inzwischen auch viele internationale Konzerne haben sich eindeutig hinter den Entwurf gestellt. Das sind ja Firmen, die verstanden haben, dass sie auch ihr eigenes Geschäftsmodell in Einklang mit der Natur bringen müssen. Das müssten Politiker jener Parteien, die als wirtschaftsnahe gelten, eigentlich verstehen.
Landeshauptfrau Mikl-Leitner meinte, dass die EU-Kommission nicht als Vorfeldorganisation der Grünen agieren soll. Verstehen Sie diese Kritik, ist das so?
Ich verstehe schon, was sie sagen will, das ist aber aus meiner Sicht nicht zutreffend. Und ich frage mich, was da mit einer traditionell europafreundlichen Partei wieder ÖVP eigentlich passiert. Es geht darum, dass die EU-Kommission einem grünen Anliegen nahesteht, nur das stimmt ja überhaupt nicht. Es ist doch völlig unbestritten, dass es eine ambitionierte Klimaschutzpolitik braucht und einen ambitionierten Umweltschutz. Aus diesem zukunftsorientierten Ansatz einen Vorwurf zu machen, ist für mich fachlich nicht nachvollziehbar und entspricht auch nicht der politischen Agenda der Kommission.
Wie geht es einem ausgezeichneten Biodiversitätsforscher angesichts der Diskussion?
Die Ablehnung des Gesetzes wäre ein gravierender Rückschlag für die Bemühungen der EU, ihre Verpflichtungen, die sie eingegangen ist, einzuhalten und umzusetzen. Zum Schaden der europäischen Bevölkerung. Weil je länger wir mit Maßnahmen zuwarten, desto gravierender sind die Auswirkungen und Folgen, denen wir uns aussetzen werden. Wenn es keine Mehrheit für das Gesetz gibt, wird es wohl in dieser Legislaturperiode keinen neuen Versuch geben, davon muss man ausgehen. Das ist ja das politische Ziel dahinter, das zu verhindern. Der EU-Wahlkampf hat ohnehin schon begonnen.
Hauptargument der Volkspartei ist, dass durch das Gesetz die Ernährungssicherheit gefährdet wäre. Trifft das zu?
Nein. Wenn ich die Ernährungssicherheit gefährdet sehe, dann sind es Entwicklungen, dass täglich elf Hektar Boden versiegelt werden, nur dagegen hat man auch nichts unternommen, da bremst die ÖVP. Aber die Flächenversiegelung untergräbt unsere Versorgungsbasis, etwa wenn es um die Umsetzung der Bodenstrategie geht. Das zeigt ja nur die Scheinheiligkeit der Argumentation.
Vordergründig ist das Argument, wenn man mehr Boden schützt, kann man weniger anpflanzen und produzieren. Nur stimmt das eben nicht. Weil auch stabile Ernteerträge sind abhängig von einer einigermaßen intakten Kulturlandschaft. Man kann eben nicht 100 Prozent der Fläche intensiv nutzen und glauben, das geht in alle Ewigkeit gut. Wir haben dann Bodenerosion, Ermüdung, Schädlingsbefall und so weiter. Was es braucht, ist ein ausgewogenes Verhältnis auch intensiv genutzter Flächen und Rückzugflächen für die Artenvielfalt. Dann habe ich stabile Ernteerträge und eine einigermaßen stabile Artenvielfalt. Bei Ackerflächen sieht man ja am Rande die Blühstreifen, das war eine bewusste Entscheidung, auch um den Wind zu bremsen. Man verzichtet also auf Ackerfläche, hat aber dennoch höhere Erträge, weil ich weniger Verdunstung habe und mehr Feuchtigkeit im Boden. Das Beispiel zeigt, dass es oft sinnvoll ist, kleine intakte Lebensräume zu bewahren, allein schon für die Landwirtschaft, da rede ich noch gar nicht von der Biodiversität.
(kurier.at, BerG)
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