Vranitzky: "Ich höre noch immer zu oft 'wir' und 'die'"

Alt-Bundeskanzler Franz Vranitzky
Alt-Bundeskanzler Franz Vranitzky blickt zurück auf den Zusammenbruch des Ostblocks vor 30 Jahren und Österreichs EU-Beitritt vor 25 Jahren.

KURIER: Am 1. Jänner jährt sich der EU-Beitritt Österreichs zum 25. Mal. Dem vorausgegangen waren die dramatischen Umbrüche von 1989, an die heuer erinnert wurde. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Bilder dieser Ereignisse von vor 30 Jahren sehen?

Franz Vranitzky: Es zeigt sich immer wieder, dass die Geschichte Überraschungen für uns bereit hält. Die Demontage der Eisernen Vorhänge und Mauern und damit der kommunistischen Systeme in Osteuropa waren in dieser Form und auch in dieser Geschwindigkeit nicht erwartbar. Ich kenne niemanden, der das vorausgesehen hätte. Es schien zunächst so, als wäre eine Ordnung in Europa nach den zwei verheerenden Weltkriegen wiederhergestellt. Wie wir heute sehen, ist diese Ordnung aber doch nicht so selbstverständlich, wie man das 1989 ff. erhofft und erwartet hat. Viele zerbrechen sich den Kopf darüber, was denn jetzt zwischen uns im Westen und unseren Nachbarn im Osten los ist. Wir sind alle EU-, OECD-, Europarats-, UN-Mitglieder – müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass bei wichtigen Themen wie dem Klimaschutz, der Bewältigung der Flüchtlingsströme, einer gemeinsamen Sicherheitspolitik, dem Umgang mit Russland sehr viele Steine die Zahnräder blockieren. Hier zu Lösungen zu kommen, wird sehr viele Anstrengungen erfordern. Die ersten Ansätze, die wir kennen, scheinen teilweise in der Vergangenheit zu liegen. Die ehemals kommunistischen osteuropäischen Länder sind – nach einem jahrzehntelangen Diktat Moskaus – offenbar nicht ohne weiters bereit, sich den westlichen Lebens- und Demokratieformen anzuschließen. Vielleicht stimmt auch, dass sich der Westen aufgrund seines höheren Lebensstandards, seiner internationalen Geltung im transatlantischen Sinn zu überheblich gegeben hat – und die osteuropäischen Länder sich dieser Überheblichkeit nicht aussetzen wollen. Auf der anderen Seite können wir uns damit nicht zufrieden geben, dass es etwa in den Visegrád-Ländern völlig andere Auffassungen von Demokratie, Rechtsstaat, humanitärer Gesinnung gibt.

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